Bestatterin/Hebamme

Ellen Matzdorf, 60

 

„Das Leben ist zu kurz für später“

 

Ellen Matzdorf dürfte eine der wenigen sein, die als Hebamme und Bestatterin zugleich arbeitet, wahrscheinlich ist sie zumindest in Deutschland die einzige. In ihrer Arbeit sieht sie keinen Widerspruch, im Gegenteil, sie sagt: „Ich habe ja auch immer gedacht, ich kann das nicht parallel machen. Aber das war nur in meiner Vorstellung etwas Ungewöhnliches. Sterben ist die normale Schlussfolgerung auf das Leben.“ Gerade ist ihr Buch „Vom ersten bis zum letzten Atemzug“ erschienen, ein sensibles Plädoyer für selbstbestimmtes Leben und Sterben. Ein Gespräch über die Einsamkeit des letzten Augenblicks, den Mut, Träume zu verwirklichen und über die Dinge, auf die es am Ende wirklich ankommt.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Wie reagieren die Menschen darauf, dass Sie als Hebamme und Bestatterin zugleich arbeiten?

Wenn ich irgendwo erzähle, ich bin Hebamme, dann sprechen die Frauen sofort über ihre Geburtserlebnisse. Wenn ich dann aber sage, ich arbeite auch als Bestatterin, dann ist erstmal Stille, dann sind  alle betroffen. Sterben wird heute noch immer nicht als normale Schlussfolgerung auf das Leben anerkannt, Verlust will niemand. Ich habe ja auch immer gedacht, ich kann das nicht parallel machen. Aber das war nur in meiner Vorstellung etwas Ungewöhnliches.

Der Mensch verdrängt lieber, er möchte sich mit dem eigenen Ende nicht auseinandersetzen?

Genau. Auch, weil es unbekannt ist. Wir können ja niemanden fragen, keiner kann uns erzählen, wie es ist, wenn man tot ist. Und dann kommen die ganzen Vorstellungen. Für die einen ist der Tod nur der Übergang in das nächste Leben. Für den anderen ist danach gar nichts mehr. Und wenn da gar nichts mehr ist, warum soll ich mich damit beschäftigen, mich womöglich auch noch darauf vorbereiten? Hinzu kommt: Sterben und Tod, das ist ja auch nochmal ein Unterschied. Sterben ist nur der Weg in den Tod. Und Sterben heute ist nicht so leicht.  Es ist häufig mit Schmerzen verbunden, es ist mit Panik verbunden, mit medizinischem Einsatz. Heute sterben so viele Menschen allein. Wenn man schwer krank ist, darf man noch ins Hospiz, wo man vielleicht dieses Umsorgen hat wie früher in der Großfamilie oder in der Familie.  Aber ansonsten geht man heute zum Sterben ins Krankenhaus und da weiß man ja, wie die Strukturen sind. Da haben alle keine Zeit mehr und sind gestresst. 

Wie gehen Sie mit der eigenen Angst um?

Ich habe keine. Im Moment zumindest bin ich fest davon überzeugt,  dass das schon gelingen wird, dass das schon klappen wird mit dem Sterben. Ich stelle mir auch nicht vor, dass ich dahinsieche oder leide. Und wenn es dann irgendwann so kommt, dann ist es eben so, da muss ich den Umgang mit finden, und das wird auch gelingen.

Es gibt diesen magischen Moment der Geburt, – und in der Sterbebegleitung gibt es den magischen Moment des Sterbens. Das empfinde ich beides als sehr außergewöhnlich oder sehr einzigartige Momente.

Können Sie sich entsinnen, wann Sie das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wurden?

Als unser Hund überfahren worden ist, da war ich – glaube ich – sieben oder acht Jahre alt. Der hat dann aber doch noch gelebt, und er hat auch überlebt. Das war so ein Fastmoment, da kann ich mich gut daran erinnern. Meine Mutter und ihr damaliger Freund hatten den Hund einfach in die Küche gelegt, um ihn dann irgendwo später zu entsorgen. Sie verboten uns zwar, in die Küche zu gehen, aber wir haben uns doch reingeschlichen, es zog uns natürlich zu unserem Hund. Und dann haben wir gemerkt, dass er noch lebt. Die Alten sind dann auch endlich zum Tierarzt gefahren und haben sich gekümmert. Das war so die erste Situation. Und ich war 15 oder 16 Jahre alt, als meine Oma gestorben ist. Sie war sehr krank zum Schluss, und ich musste in die Ferien, das weiß ich noch. Sie sagte zu mir beim Abschied, dass sie nicht mehr will, sie wiederholte das mehrfach und ich dachte damals, ach komm‘. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand nicht mehr leben will. Und dann bin ich unterwegs gewesen, und als ich wiederkam, war sie weg. Ich war ziemlich entsetzt, dass man mir nicht Bescheid gegeben hatte. Meine Schwiegermutter wieder lag zwei Tage mit schwerem Schlaganfall in ihrer Wohnung. Sie hatte sich zwar so ein Netz aufgebaut zusammen mit ihrer Schwester, bei dem es auch darum ging,  einmal am Tag zu telefonieren und wenn der andere nicht reagiert – so der Plan – , dann müsste man schnell hinfahren und gucken, was da los ist. Und dann reagierte meine Schwiegermutter irgendwann tatsächlich nicht auf so einen Anruf und die Tante ist trotzdem nicht losgelaufen, weil sie dachte:  „Wird schon nix sein.“ Und so lag meine Schwiegermutter zwei Tage in ihrer Wohnung, das muss ganz schlimm für sie gewesen sein, weil sie war ja eben noch nicht tot, sondern lag da und niemand kam, um ihr zu helfen. Danach hatte sie noch zwei, drei Schlaganfälle, und als es dann mit ihr vorbei war, empfand ich das als Erlösung.

Heute wäre das vielleicht anders. Es gibt es doch für alles eine App. Gibt es nicht eine, die drückt man und irgendwo im virtuellen Raum weiß dann jemand Bescheid, dass man noch lebt?

Schöner wäre es ja, wenn man einen Freundeskreis hätte oder Ähnliches, der einen auffängt. Es geht ja gar nicht darum, dass man sich Arbeit abnimmt, sondern einfach nur, dass man beieinander ist. Ich kenne eine Gruppe, die hat sich zusammen in einem Friedwald einen Baum gekauft. Irgendwann werden die da alle zusammen nacheinander bestattet. Da sind auch einige Alleinstehende dabei, aber auch einige Paare, die halten Kontakt, die kümmern sich umeinander. Ähnlich war ja mal der Gedanke der Mehrgenerationenshäuser. So etwas finde ich ganz großartig, und es geht ja auch, ohne dass man zusammenwohnt.

Was für Fähigkeiten braucht es, um als Bestatterin und als Hebamme zu arbeiten. Gibt es Überschneidungen?

Ich würde es gar nicht Fähigkeiten nennen. Ich glaube, es reicht, wenn man sich klar macht, dass Leben und Sterben nahe beieinander liegen. Also mir war immer klar, dass wir irgendwann sterben werden, und der eine leider etwas eher. Für mich war das nie ein Thema, da wegzuschauen oder davor wegzulaufen, weil ich bestimmte Dinge, die ich nicht abändern kann, gut hinnehme. Zum Glück habe ich aber auch noch nie den Tod eines eigenen Kindes erleben müssen, dann würde ich das sicher anders sehen. Andererseits: Es ist, wie es ist, und ich kann es nicht verhindern. Und wenn ich es nicht verhindern kann, dann kann ich  wenigstens versuchen, möglichst gut zu begleiten. Ich kann für die Menschen da sein und sie unterstützen, so gut es eben geht.

Was ist Ihnen emotional näher? Die Geburt oder der Tod?

Ich empfinde das als gleichwertig. Es gibt diesen magischen Moment der Geburt, – und in der Sterbebegleitung gibt es den magischen Moment des Sterbens. Das empfinde ich beides als sehr außergewöhnlich oder sehr einzigartige Momente. Allerdings fühle ich mich heute in der Begleitung von Verstorbenen oder einer Sterbebegleitung oder auch in der Begleitung von Beerdigung und Beisetzung tatsächlich wohler, weil viel weniger Druck da ist. Der ist zwar auch da, aber anders. Die Beerdigung muss klappen. Die Musik muss im richtigen Moment abgespielt werden. Die Trauerkarten müssen pünktlich fertig sein. Aber letztendlich ist das alles weniger anstrengend als eine Geburtsbegleitung, die auch mal vier fünf Tage und Nächte dauern kann. Da muss immer alles ganz schnell gehen. Wenn jemand verstorben ist, versuchen wir immer, den Druck rauszunehmen. Weil die Zeit vom Moment des Versterbens bis zur Beisetzung ist ja die einzige, die man noch miteinander hat, und da ist es auch gut, das langsam zu machen, nicht ruckzuck schnell den Verstorbenen unter die Erde zu bringen. Es ist ja auch ein Stück Trauerarbeit oder Bewältigung, sich auf die Verabschiedung gut vorzubereiten.

Wie findet man die richtigen Worte?

Tatsächlich werden bei einer Sterbebegleitung die Worte immer weniger, zumindest war es so bei denen, die ich bisher erlebt habe. Da ist es so gewesen, dass, solange es noch ging, natürlich noch viel gesprochen wurde und auch nochmal Fragen gestellt wurden. Das fand ich auch immer sehr wichtig. Und nachher ging es nur noch ums Dabeisein, ums da sein, um in der Nähe zu sein, um dem Menschen, der stirbt, zu vermitteln, du bist nicht alleine, wir versuchen so gut wie möglich, deine Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn eine Geburt gut läuft und die Frau bei sich ist, dann lässt man sie ja auch am besten in Ruhe und signalisiert nur: ich bin da, ich kann zupacken, wenn es nötig ist, aber du schaffst es alleine. Und so ist es beim Sterben auch. Wir müssen da nicht viel tun, nur signalisieren. Manchmal wollen die Menschen aber alleine sein und sterben einfach nicht, sondern machen das eben erst in dem Moment, in dem man vielleicht gerade den Raum verlassen hat.

Ist das das Wichtigste bei Ihrer Arbeit? Quasi die Schulter anbieten? 

Genau. Eigentlich auf allen Ebenen. Also wir sind einerseits dazu da, die ganzen administrativen Dinge zu erledigen. Das fängt dann bei den Traueranzeigen an und geht bis zum Beantragen der Sterbeurkunde. Aber oft geht es auch einfach nur ums da sein, wenn die Angehörigen das Gefühl haben, sie müssen nochmal reden. Manchmal sind das ganz kleine Anlässe und sie sagen: „Also ich wollte noch mal eben hören, ob die Sterbeurkunde schon da ist.“ Die wissen aber, dass sie noch lange nicht da sein kann. Aber sie rufen dennoch an, weil es gar nicht um die Sterbeurkunde geht, sondern darum, das Herz auszuschütten. Und dann unterhält man sich und spendet Trost oder hört einfach zu.

Dann ist plötzlich wieder ein Tag vorbei, an dem ich ausschließlich gearbeitet habe.

Hat Ihre Arbeit mit dem Tod Ihre Sichtweise auf das Leben verändert?

Mir ist bewusst geworden, wie schnell es gehen kann, dass man nicht mehr zufrieden und glücklich lebt, wie schnell es gehen kann, dass das Leben vorbei ist. Es sind ja eben nicht immer nur die langen Krebserkrankungen oder andere Krankheiten, die zum Tode führen oder weil die Menschen ein hohes Alter erreicht haben, sondern auch die anderen Momente, in denen man eben vielleicht noch mit dem Bruder telefonierte und zwei Minuten später ist er tot. Ich lebe heute bewusster, würde ich sagen. Ich nehme nicht mehr jede Herausforderung an in Form von Streitigkeiten oder wenn ich merke, das ist jetzt überflüssig, sich über so etwas Gedanken zu machen. Heute ist es für mich nicht mehr wichtig, ob jemand an der Kasse vordrängelt. Oder ob die Kellnerin  im Restaurant mich eine Minute länger ignoriert, weil sie gerade selbst im Stress ist. Da habe ich einen anderen Blick bekommen. Da warte ich eben einen Moment und gucke in der Gegend herum. Ist ja auch schön. Und wenn ich spüre, ich brauche eine Pause, nehme ich sie mir heute konsequenter.

Sie lassen sich nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen?

Ich begleite eine alte Dame in Bremen. 2018 haben wir ihren Mann bestattet. Und wir sind irgendwie so ein bisschen aneinander hängen geblieben. Ich besuche sie regelmäßig und kümmere mich um alle möglichen Dinge für sie. Und sie hat irgendwann mal gesagt: „Das Leben ist zu kurz für später.“ Und das ist jetzt immer unser Slogan. Wir schieben nichts auf und gehen ins Cafe oder in die Stadt, weil wir Spaß daran haben.

Welche Dinge sind es, die die Menschen bereuen?

Häufig sind es die zwischenmenschlichen Dinge. Sich nicht getrennt zu haben, in einer Beziehung geblieben zu sein, weil man sie mal begonnen hatte oder vielleicht einen finanziellen Vorteil davon hatte; das eigene Leben nicht gelebt zu haben. Mit einer Dame habe ich gerade eine Vorsorge gemacht, sie ist Mitte, Ende 70, wir sehen uns ab und zu, vor Kurzem bekam sie eine Krebsdiagnose. Und sie sagt auch ganz klar, dass sie es ganz schlimm findet, nie Stellung bezogen zu haben, nie irgendwie mal mutig und stark die eigenen Dinge in die Hand genommen zu haben. Meine Mutter hatte es mit dem Sterben auch nicht ganz so leicht. Und sie hatte immer Schwierigkeiten, ihre Kinder zu lieben und uns das zu zeigen. Darüber hat sie am Ende gesprochen. Dass sie sehrwohl alle ihre Kinder geliebt hat, nicht alle gleich, aber alle geliebt. Solche Wörter wären ihr früher nie über die Lippen gekommen. Wenn sie die Chance gehabt hätte, nochmal von vorne anzufangen, meinte sie, würde sie viele Dinge anders machen.

Ist das nicht interessant? Da rennt der Mensch zeitlebens irgendwelchen materiellen Dingen hinterher; am Ende aber geht es um etwas ganz anderes. Insofern haben Sie auch eine tolle Arbeit, weil Sie tagtäglich immer wieder das Wichtigste vor Augen geführt bekommen. Nämlich: Leben! Das muss etwas sehr Befriedigendes haben.

Ja, das ist so. Ich empfinde mich da auch total im Flow. Viele Jahre etwa war ich gar nicht reisefreudig. Ich bin nicht weggefahren, ich war immer gerne zu Hause, bin vielleicht mal an die Küste gefahren für einen Moment. Aber das mache ich jetzt auch anders, ich merke, dass ich los möchte, Leute treffen, unterwegs sein. Weil, wenn ich zu Hause bin, dann bin ich quasi auch im Betrieb, dann arbeite ich. Und dann merke ich manchmal gar nicht, wie die Zeit vergeht. Und dann ist plötzlich wieder ein Tag vorbei, an dem ich ausschließlich gearbeitet habe.

Was ist das Wichtigste im Leben?

Das Wichtigste im Leben sind Kontakte, zur Familie oder eben auch zu Freunden. Zur Familie allerdings nur, wenn es funktioniert. Ansonsten aber mit Menschen in Interaktion treten, zusammenkommen, sich umeinander kümmern, füreinander da sein und dann eben auch mal gucken, ob man immer in jeder Situation so hart miteinander umgehen muss, wie man das eben auch oft zwischen den Menschen so erlebt.

Und praktisch? Wie notwendig ist etwa eine Sterbeversicherung?

Also ich weiß, dass es gut ist, sich einfach damit mal auseinanderzusetzen. Das ist ja auch ein Prozess, sich damit zu befassen oder es für sich selbst aufzuschreiben. Und dann natürlich auch mal zu gucken, wie kann man das finanzieren. Das Drama beginnt ja da, wenn etwa die Mutter gestorben ist und sie hat drei Kinder hinterlassen. Das eine sagt, wir machen eine Seebestattung, das andere sagt, wir machen Erdbestattung und das nächste sagt, nee, sie wollte hier auf den Friedhof zu Papa. Und dann haben wir drei Menschen und drei Möglichkeiten.

Ab welchem Alter sollte man das klären?

Am besten sofort.

Sofort? Also jeder?

Ich halte auch in Schulen Vorträge, auch in der Grundschule. Ich kenne dort einen Lehrer, dessen beiden Kinder ich zur Geburt begleitet hatte. Früher hatte ich dort im Sexualunterricht immer nur erklärt, wie es mit der Geburt geht, wie das Baby im Bauch wächst und so. Und jetzt machen wir das so, dass ich erzähle, wie das Baby im Bauch wächst und wie es geboren wird. Und auch, wie es dann ist, wenn man stirbt.

Und, wie reagieren die Kinder?

Gut, offen und interessiert, neugierig. Und sie erzählen dann, dass der Kater gestorben ist oder der Vogel oder die Oma. Die haben ja noch nicht diese vielen Erfahrungen wie wir, sie sind ja noch sehr unbelastet. Natürlich sind sie traurig, wenn auf einmal die Lieblingsoma nicht mehr da ist, das ist ja klar. Aber wenn man darüber spricht, können sie es noch viel besser akzeptieren, dass für die Oma vielleicht einfach die Zeit gekommen ist. Würde man das immer alles hinter verschlossenen Türen tun, dann entsteht wieder dieses Mysterium und dann wird es immer geheimnisvoll, gefährlich und Angst behaftet bleiben, weil wir das Thema verdrängt haben.

Buch-Tipp

„Vom ersten bis zum letzten Atemzug“
Ellen Matzdorf
ZS – ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Gebunden mit Schutzumschlag
192 Seiten
ISBN 978-3965843486

Mehr Infos hier:
https://stern-bestattungen.de/

 

Sterben heute ist nicht so leicht.  Es ist häufig mit Schmerzen verbunden, es ist mit Panik verbunden, mit medizinischem Einsatz. Heute sterben so viele Menschen allein.