Tanja Köhler, 56

Tanja Köhler, 56

Psychologin

Tanja Köhler (56)

 

„Ich bin eine
einsame Wölfin“

Tanja Köhler gehört zu der Sorte Mensch, die morgens gut gelaunt in den Tag springt und die auch sonst nichts leicht aus der Bahn wirft. Auf einer Glücks-Skala von eins bis zehn ordnet sie sich selbst bei 12 ein. Ihr Weg dorthin führte über einen beruflichen Neustart, eine Scheidung und viele inneren Disput. Ihr Rat an andere: ‚Schaut in den Spiegel – und stellt euch die Frage: Was ist es, was dich glücklich macht?‘ Ein Gespräch über Irrwege, Klarheit  – und Gänseblümchen des Alltags.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Du arbeitest als Radiomoderatorin, Coach, Beraterin, bist Bestsellerautorin. Wer und wie viele bist du denn?

Ich bin eine schizophrene Persönlichkeit. Man könnte sagen: Von allem ein bisschen. Meine Neugierde auf diese Welt lässt mich in viele Richtungen schauen, ich mag mich tatsächlich nicht gerne festlegen. So bin ich etwa auch ein Naturmensch, das wird, glaube ich, immer etwas vergessen.

Stimmt. In deinem Buch „Rauhnächte“ sprichst du über deine Neujahrswanderungen. 

Ja. Diese Wanderungen gehören seit vielen Jahren zu meinen festen Ritualen. Aber auch sonst bin ich jeden Tag bei Wind und Wetter mindestens zwei Stunden draußen. Ich habe einen riesigen Hund, den Luke, der treibt mich an. Morgens um 7 Uhr geht es los. Mittags will er auch noch mal, und abends, wenn ich Lust habe, gehe ich auch noch mal mit ihm raus. Das ist toll, das sortiert das Leben.

Gott sei Dank habe ich meinen Trotzkopf durchgesetzt.

Gilt das schon als Selbsttherapie?  

Die Natur gibt mir einfach viel. Und doch sind diese Spaziergänge für mich aber auch eine Art kreativer und klärender Prozess. Beim Gehen befinde ich mich in einem inneren Dialog. Ich habe immer das Handy dabei und sende mir kurze Sprachnachrichten, wenn ich etwa eine Lösung für ein Problem gefunden habe oder mir eine kreative Redewendung einfällt, das mache ich alles von unterwegs.

Du hast einmal gesagt, auf einer Glücksskala von 1 bis 10 würdest du dich bei 12 einordnen. 

Mir geht es tatsächlich gut, ich bin glücklich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht auch schlechte Tage hätte. Die kommen allerdings nur zweimal im Jahr vor. Und was auch nicht heißt, dass ich ein einfaches Leben hätte. Insgesamt aber bewege ich mich auf einer ganz tollen Basis.

Wie bist du dahin gekommen?  

Ich habe in meinem Leben zwei riesige Lebensentscheidungen getroffen, ich nenne sie „Bäm-Entscheidungen. Das eine war eine schwerwiegende berufliche Entscheidung. Nach dem Abitur machte ich eine Ausbildung zur Kauffrau im Groß- und Außenhandel  – und arbeitete in dem Bereich auch vier Jahre. Dann merkte ich aber schnell, dass das nichts für mich ist und meldete mich heimlich für ein Studium in Psychologie an. Als ich meinen Eltern davon erzählte, sagte mein Vater: ‚Wenn du das machst, dann habe ich keine Tochter mehr.‘ Meine Eltern waren zwar nicht prinzipiell gegen ein Studium; nach dem Abitur hätte ich direkt eines machen können. Sie konnten nur nicht verstehen, dass ich einen gut bezahlten Job für ein Studium aufgebe – zumal ich in der Schule nicht gewesen bin. Gott sei Dank aber habe ich mich nicht irritieren lassen, sondern meinen Trotzkopf durchgesetzt.

Paare spüren, wann etwas zu Ende ist.

Und die zweite Entscheidung?

War die Trennung von meinem Mann nach 23 Jahren und einem gemeinsamen Kind. Am Schluss war es dann zwar eine einvernehmliche, tolle Trennung, aber ich habe acht Jahre für diese Entscheidung gebraucht.

Was war passiert?  

Wir haben noch das 100er Fest miteinander gefeiert, das heißt, wir haben beide zusammen unseren jeweiligen 50. Geburtstag gefeiert. Das war am 19. November. Und dann, an Weihnachten, habe ich ihm gesagt, es geht nicht mehr. Beziehungsweise, mein Mann war zu dem Zeitpunkt gerade bei seiner Herkunftsfamilie – und ich habe ihm das alles in einer Email geschrieben. Das war der Anfang vom Ende.

Du hast es ihm geschrieben?

Ja, ich konnte es ihm nicht sagen, ich war zu feige. Und ich glaube, für ihn kam es nicht aus heiterem Himmel. Paare spüren, wann etwas zu Ende ist.

Wann war dein Moment der Klarheit, wann wusstest du, dass du dich trennen willst?

Also, dass ich es will, das wusste ich tatsächlich schon acht Jahre davor. Aber die Klarheit, dass ich es nicht mehr aushalte, das wurde mir erst durch die Arbeit an den „Rauhnächten“ bewusst und durch das eigene innere Hineinhorchen. Ich hatte immer den Glaubenssatz, dass ich es besser machen müsste als meine Eltern in ihrer Ehe. Bis ich kapierte, dass „besser machen“ nicht „aushalten“ heißt, sondern dass besser machen heißt, eine gute Trennung hinzukriegen. Es wäre sicher irgendwie eine zeitlang mit uns noch gut gegangen, ich habe ja nicht gelitten in dem Sinne, dass ich geschlagen wurde, wir haben nicht gestritten, aber wir sind uns aus dem Weg gegangen, wir hatten nichts mehr gemeinsam, außer unser gemeinsames Kind. 

Wie hat dein Mann reagiert? 

Auf die Email erst einmal gar nicht. Aber als er dann wieder Zuhause war, sind wir eine große Runde spazieren gegangen und wir haben darüber gesprochen. Irgendwann schaute er mich dabei ganz ehrlich an und sagte: „Da gibt es, glaube ich, keine Chance mehr für uns.“

Teile dich mit. Sprich darüber. Such dir Hilfe.

Muss man immer erst durch ein tiefes Tal, bevor sich Dinge bessern? Welchen Rat würdest du jemandem geben, der an einem ähnlichen Punkt in seinem Leben steht?

Da gibt es keine pauschalen Antworten. Es hat viel damit zu tun, wie wir gelernt haben, mit Konflikten umzugehen. Ich etwa bin super gut im Beraten von anderen Menschen, und wenn ich mich als externe Beraterin hätte beraten müssen, hätte ich mich schon acht Jahre zuvor in dieses Tal hineingeschickt. Aber ich bin eine einsame Wölfin. Das heißt, ich mache alles mit mir selbst aus, setze eher auf die Strategie der vollendeten Tatsachen, wie ich sie ja schon damals angewendet hatte, als ich meinen Eltern erst von meinem Studium erzählte, als ich den Studienplatz schon hatte. Wenn ich mich aber selbst beraten müsste, würde ich es mir anders empfehlen.

Nämlich?  

Teile dich mit. Sprich darüber. Such dir Hilfe.

Wovon ist abhängig, wie jemand mit solchen Fragen und Ängsten umgeht?

Ich denke, das hat ganz viel mit Vorbild zu tun. Wir – die Babyboomer – entstammen ja einer Generation, die ihre Kindheit in der Kriegs- oder Nachkriegszeit verbracht hat. Unsere Eltern mussten lernen, ihre Probleme mit sich selbst auszumachen. Nach dem Motto: „Was jammerst du?“ „Was hast du jetzt für ein Thema?“ „Sei froh, dass du überhaupt lebst.“ Und das ist das, was auch ich mitbekommen habe.

Das heißt, die Umgang mit Problemen wird quasi vererbt?  

Die Kinder von damals, also diese Generation der Kriegskinder zwischen 1935 bis 1946, die haben alle etwas Ähnliches erlebt. Ein Drittel ist dabei relativ unbekümmert durch den Krieg gekommen, weil sie gut behütet irgendwo leben konnten. Die haben zwar auch Verluste erlebt, aber nicht so dramatisch. Dann gab es ein Drittel, das traumatisiert worden ist, dazu gehört mein Vater, er ist Jahrgang 1940. Dieser Teil hat zwar schlimme Sachen erlebt, das etwa das eigene Haus zerbombt worden ist, aber sie haben überlebt. Und dann gab es noch das Drittel von Kindern, das damals schwerst traumatisiert worden ist, etwa als Opfer von Straftaten. Und je nachdem, zu welchem Drittel die Eltern zählen, hat man deren Bewältigungsstrategien übernommen, die am Ende fast alle nicht wirklich förderlich sind.

Manche flüchten sich vielleicht deswegen auch in eine depressive Stimmung.

Und davor gibt es kein Entkommen?  

Da kommt es darauf an, wie reflektiert man selbst damit umgeht. Also grob gesagt, war die Generation unserer Eltern dazu verdonnert, die Trümmer wegzuräumen. Und wir, also du und ich, wir sind dafür da, unsere seelischen Trümmer wegzuräumen. Und unseren Kindern wieder geben wir mit, wie man damit umgehen kann.

Was aber nicht erklärt, warum ausgerechnet die Lebensmitte für viele Menschen heute so schwierig ist. Oder?

Sagen wir so: Hier geht es um das Besetzen von Freiräumen. Und Freiräume entstehen, wenn Rollen sich verändern. So lange, wie mich etwa mein Sohn gebraucht hat, war keine Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken oder über meine eigene Endlichkeit. Wenn aber die Zeit kommt, in der man beginnt, einige Rollen abzulegen, weil man etwa in Rente geht oder weil die Kinder ausziehen, entsteht plötzlich ein Freiraum, der gefüllt werden will. Manche wissen dann nicht, wie sie ihn füllen können und flüchten sich deswegen vielleicht auch in eine depressive Stimmung. Wohlgemerkt, das ist jetzt sehr plakativ. Mich suchen üblicherweise ja eher Frauen auf, die nicht geschoben werden wollen, sondern denen ich nur ein bisschen Mut machen muss.

Wenn rauskommt, es braucht erst eine Bäm-Entscheidung, dann such dir Hilfe.

Es geht ihnen um einen Richtungswechsel, um eine Korrektur, nicht um die großen lebensentscheidenen Fragen?  

Es geht in der Regel zumindest nicht um komplett neue Lebensentwürfe, häufig sind nur kleine Änderungen vonnöten. Kleine Änderungen, die etwas Großes bewirken. Ich nenne als Beispiel immer gern das Märchen von der Prinzessin, die auf einer kleinen doofen Erbse geschlafen hat; alles tat ihr weh. Dann aber war die Erbse weg und die Prinzessin konnte gut schlafen. Und das heißt im Umkehrschluss: Es müssen nicht immer große Veränderungen sein, sondern man sollte schauen, welche kleinen Veränderungen man hinkriegt, um sagen zu können, ich habe ein erfülltes Leben.

Also Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben. Wie starte ich so etwas  – in zwei, drei Sätzen? 

Schau in den Spiegel, halte den Blick aus – und stelle dir die Frage: Was ist es, was mich glücklich macht? Wenn die Frage Antwort lautet: Ich bin glücklich, dann ist das doch super. Dann wäre die Anschlussfrage: Was kannst du weiterhin tun, um jeden Tag einen tollen Tag zu haben. Wenn aber rauskommt, es braucht erst ein Bäm, eine Bäm-Entscheidung, dann such dir Hilfe.

Ich nenne es die Gänseblümchen des Alltags.

Und so landet man dann irgendwann bei Glücksgefühl 12 auf der Skala eins bis zehn?  

Für mich kann ich sagen: Nach unserer Trennung fing ich wieder an, die kleinen Dinge zu sehen und wertzuschätzen. Und du wirst lachen; jeden Morgen schreibe ich in ein Heft, was ich mir an diesem Tag Gutes für „Beauty und Seele“ tun kann, was ich tagsüber Schönes machen will. Das ist mindestens eine Sache. Egal, ob eine Maniküre oder ein Cappuccino draußen auf der Terrasse. Ich nenne es die Gänseblümchen des Alltags.

Und was hast du dir für heute Schönes vorgenommen?

Ich werde meinen Sohn nachher abholen und wir werden gemeinsam einem süßen Stückchen frönen. Ich freue mich schon diebisch darauf; es sind nur zehn Minuten, aber die Zeit mit ihm ist so kostbar.

Buchtipp:

„Rauhnächte“ – 12 Tage nur für dich.“
Tanja Köhler,
Knesebeck Verlag
144 Seiten
ISBN 978-3957287151

Außerdem von ihr erschienen:
„Vorwärts heißt zurück zu mir –
Aufbruch in ein selbst bestimmtes Leben“
Kösel-Verlag
256 Seiten
ISBN: 978-3466348107

Mehr Infos zu Tanja Köhler hier:

www.die-tanja-koehler.de

Mir geht es tatsächlich gut, ich bin glücklich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht auch schlechte Tage hätte.

Zur Person

Tanja Köhler berät seit über 20 Jahren vor allem mittelständische Familienunternehmen in der Entwicklung der Führungskräfte und Mitarbeiter. Neben ihrer Arbeit als Coach moderiert sie die Radio-Sendung „Sag mal Tanja?!“ auf Antenne 1 Neckarburg. Mit ihrem Sachbuch „Rauhnächte – 12 Tage nur für dich“ landete sie auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Susanne Krauss, 57

Susanne Krauss, 57

Fotografin

Susanne Krauss, 57

„Ich glaube, es macht großen Sinn, die Leute zu ermutigen, einfach so zu sein wie sie sind“

Im Alltag sind sie es längst: Superheldinnen. Frauen über 70, die von einem Leben zu erzählen wissen, das nicht nur Höhen kennt. Die Fotografin Susanne Krauss aus dem bayerischen Grafing hat sie ins Scheinwerferlicht geholt. Mit leicht ironischem Blick  verschafft sie den Frauen den Respekt und die Anerkennung, die sie für ihre Leistungen verdienen. Ihre „Granniegang“ ist eine liebevolle Hommage an das Alter. Susanne Krauss selbst sagt: „Niemand von uns will unsichtbar sein. Allen Menschen geht es  ja von Geburt an so, dass sie Wertschätzung erfahren wollen oder ein bisschen Anerkennung.“

 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Fotos: Susanne Krauss

Wie bist du auf die Idee zum Granniegang-Projekt gekommen? 

Ich beschäftige mich ja schon lange mit Menschen in allen Lebenslagen. Und irgendwann fiel mir auf, dass Frauen mit zunehmendem Alter, ich sage mal, mit dem Eintritt ins Rentenalter, in der Wahrnehmung der Gesellschaft langsam verschwinden. 2017 entstand dann ein Projekt, bei dem ich Frauen in Superheldinnen-Kostümen aus bereits vorhandenen Fotos in Photoshop zusammenstellte und als Collage präsentierte. Diese Porträts kamen bei älteren Damen so gut an, dass ich mir dachte, da könne man mehr daraus machen. Ich erkundigte mich im Bekanntenkreis bei meiner Mutter und auch bei anderen älteren Frauen, ob sie vielleicht Interesse hätten, sich von mir in Superheldinnenkostümen porträtieren zu lassen. Aber leider konnte ich damals niemanden für dieses Projekt gewinnen. Und dann habe ich das erst einmal so ein bisschen ad acta gelegt.

Wieso wollten sich die Frauen denn nicht fotografieren lassen?

Die einen fanden sich nicht schön genug, andere fühlten sich zu alt, wieder andere sagten: „Ich würde mich seltsam fühlen, wenn ich mich verkleide.“

Und dann?

Probierte ich zunächst mit der KI rum und kombinierte das Ganze nochmals mit Photoshop. Aus Spaß habe ich die Bilder dann später auf meinen Instagram-Account gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich vielleicht 2000 Follower, über Nacht ging der Account dann aber durch die Decke. Ich konnte das erst gar nicht glauben und weiß noch, wie ich zu meinen Töchtern sagte: „Ich glaube, jemand hat meinen Account gehackt.“ Die vielen positiven Reaktionen ermutigten mich, das Ganze dann noch einmal als richtiges Projekt zu etablieren.

Ich bekam damals so zwischen 300 und 400 Nachrichten pro Tag.“

Wie hast du die Frauen gefunden? Wie bist du vorgegangen?

Zunächst einmal ganz blauäugig. Ich startete auf Instagram einen Aufruf und schrieb sinngemäß: „Das hier ist jetzt KI. Wer aber Lust hat, dass wir das im realen Leben umsetzen, der möge sich bitte bei mir melden.“ Ich hatte dabei aber nicht bedacht, dass mir die Frauen ja wirklich international folgen. Da kamen aus Südamerika, aus Nordamerika, aus Italien und sonst woher Anfragen. Aber das konnte ich weder finanziell noch zeitlich leisten. Und so musste ich noch einmal umstrukturieren – und habe das Vorhaben in einen kleinen Contest umgewandelt, bei dem Frauen, egal von woher, quasi die Collage mit ihrem eigenen Foto gewinnen konnten.

Wie waren die Reaktionen?

Ich bekam zum Teil ganze Lebensgeschichten geschickt und auch Dankesbriefe, in denen die Frauen schrieben, die Bilder würden Hoffnung machen und „Ich habe jetzt richtig Lust darauf, alt zu werden.“ Ich bekam damals so zwischen 300 und 400 Nachrichten pro Tag; tatsächlich ging es Tag und Nacht nur noch um dieses eine Thema. Nach diesem kleinen Wettbewerb habe ich dann gesagt, ich würde das Ganze nun gern als richtiges Fotoshooting machen und startete mit der Journalistin Ulla Wohlgeschaffen nochmals einen Aufruf: „Wenn ihr in der Nähe von München wohnt, und Lust auf das Projekt habt, meldet euch bitte.“

Mir war wichtig, dass die Frauen nicht operiert sind, also Schönheitsoperationen hatten.

Nach welchen Kriterien hast du die Frauen ausgesucht?

Die zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten mussten passen, und natürlich auch die Offenheit. Äußerlichkeiten spielten überhaupt keine Rolle, weil bei dem Projekt sollte ja deutlich werden, dass es ganz egal ist, wie schön, wie groß oder klein oder dick oder dünn jemand ist. Wichtig war mir allerdings, dass die Frauen nicht operiert sind, also Schönheitsoperationen hatten oder dass die Frauen nicht schon selbst irgendwie als Influencer arbeiten, die also außerhalb dessen sind, was eine normale Frau in dem Alter lebt. Zum einen, weil ich ein realistisches Spektrum haben wollte und zum anderen wollte ich nicht die noch hypen, die sowieso schon für etwas bewundert werden.

 

Bei dem Projekt sollte deutlich werden, dass es ganz egal ist, wie schön, wie groß oder klein oder dick oder dünn jemand ist.

Fotos: Susanne Krauss

Wie haben die Frauen sich erklärt; warum wollten sie mitmachen? Was waren die Beweggründe?

Es war beispielsweise eine dabei, die erzählte, wie sie es als Kind ganz oft erlebt hatte, dass sie übergriffig fotografiert worden ist. Nicht im sexuellen Sinne, sondern einfach, dass man ihr immer Anweisungen erteilt hatte, wie sie zu sitzen, zu schauen oder zu lachen hat. Das fand sie so schrecklich, dass sie beschloss, sich nie mehr fotografieren zu lassen. Von ihr gibt es tatsächlich keine Bilder im Erwachsenenalter. Sie sagte, „ich möchte es  jetzt doch noch einmal versuchen, bevor ich ganz alt bin.“

Wie lief das Shooting ab? 

Mir war wichtig, dass die Frauen sich alles wünschen durften. Also von den Kostümen bis zum Setting, sie waren keinerlei Zwang unterworfen, auch nicht, sich in irgendeine Pose zu werfen oder einen Gesichtsausdruck anzunehmen, den sie nicht wollen. Ich glaube, es macht großen Sinn, die Leute zu ermutigen, einfach so zu sein, wie sie sind. Wir haben immer viel geredet und versucht herauszufinden, was die Schwerpunkte sind. Bei den Kostümen konnten sie zwischen einer großen Auswahl entscheiden, auch teilweise virtuell, verbunden mit der Frage: Möchtest du lieber eine edle Supergranny sein oder eine Wilde?

Und für was haben sie sich entschieden?

Die Frau etwa, von der ich eben gesprochen hatte, die wollte beispielsweise bunte Haare, sie wollte edel aussehen. Eine andere sagte, sie habe es satt, immer freundlich zu lächeln. Sie möchte ein Bild von sich, wo sie kämpferisch und fast schon aggressiv rüberkommt, weil sie das Gefühl hat, unsichtbar zu sein, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Wenn sie etwa über die Straße geht, dann halten die  Autos nicht. Es gibt wirklich Untersuchungen darüber, dass zum Beispiel Frauen und auch Männer mit grauen Haaren tatsächlich auf der Straße nicht mehr wahrgenommen werden. Aber nicht, weil man sie bewusst übersieht, sondern weil grau eine so unauffällige Farbe ist, dass man damit praktisch aus dem Bewusstsein rutscht. 

Sie sagt, sie fühle sich richtig toll. Dass sie im Alter noch den Mut hatte, ihre Träume zu verwirklichen

Im Ausstellungskatalog findet sich zu den Fotos der Frauen auch jeweils ein kurzer Abriss ihres Lebens. 

Ja, meine meine Mitstreiterin Ulla Wohlgeschaffen hatte die Frauen nochmal extra nach den Shootings interviewt. Und zum Teil wurden dann Schicksale öffentlich, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

Nämlich?

Eine zum Beispiel hatte  ganz klassisch mit ihrem Mann in einem Reihenhäuschen gelebt. Der Mann war beruflich immer viel unterwegs  und sie hatte in der Zwischenzeit den Haushalt und die Kinder besorgt. Als ihr Mann später in Rente ging, wollte sie auch endlich einmal verreisen, ihr Mann aber meinte: „Nee, ich war schon so viel unterwegs, das ist mir zu viel.“ Sie suchte sich dann einen Nebenjob und sparte das Geld. Sie hat dann wirklich noch große Reisen gemacht. Im alten Kinderzimmer hängen bis heute ihre Reisefotos. Immer, wenn ihr danach ist, setzt sie sich in dieses Zimmer und schaut sich ihre Bilder an. Sie sagt, sie fühle sich richtig toll. Dass sie im Alter noch den Mut hatte, ihre Träume zu verwirklichen. Und das finde ich großartig. Davon gibt es viel solcher Geschichten.

Warum ausschließlich Frauen über 70?

Tatsächlich hatte ich Anfragen von Frauen ab den Wechseljahren. Aber für das Projekt war diese Altersgruppe noch nicht passend. Wenn diese Frauen verkleidet sind, sieht man den Unterschied nicht, sie sehen noch zu jung aus. Und ich wollte bewusst das visuell so hinbekommen, dass das auf den ersten Blick passt.

Alle Grannies, die mir begegnet sind, die haben mir sehr viel Mut gemacht.

Wäre solch ein Projekt auch mit Männern denkbar? 

Speziell bei diesem Projekt schloss sich das aus, weil das ja eine Persiflage auf die männlichen Superhelden ist. Aber es stimmt. Diese Generation der so ein bisschen vergessenen Männer hätte ich auch sehr gerne einmal in einem Projekt, weil – wie es oft im Leben ist – die Sensiblen, Zartbesaiteten geraten schneller aus der Gesellschaft als die, die so mit Ellenbogen vorne stehen. Und ich glaube, da gibt es wirklich wunderbare Männer, die eine Plattform kriegen sollten, wo man sie auch noch mal sozusagen ins Scheinwerferlicht rückt. Niemand von uns will unsichtbar sein. Allen Menschen geht es  ja von Geburt an so, dass sie Wertschätzung erfahren wollen oder ein bisschen Anerkennung. Gerade in der heutigen Gesellschaft, wo sich alles so schnell dreht und eben auf Portalen wie Instagram, auf denen Leute sozusagen laut um Aufmerksamkeit schreien, gehen weniger extrovertierte Menschen unter. 

Was ist Bleibendes für dich aus der Arbeit mit den Grannies geblieben?

Alle Grannies, die mir begegnet sind, die haben mir sehr viel Mut gemacht. Da war zum Beispiel eine dabei, sie ist heute 82 und arbeitet immer noch als Coachin und Beraterin. Und wenn ich sie erlebe oder treffe, dann weiß ich, wie ich alt werden möchte. Ich finde ja generell, dass es total Sinn macht, sich viel mit Menschen, die älter sind als man selbst, zu beschäftigen. Weil sie in vielfacher Hinsicht ein Vorbild sein können. Die fürchten andere Dinge, weil sie schon viel erlebt haben – oder schätzen deswegen auch andere Dinge, weil sie ihre Erfahrungen gemacht haben.

Wie möchtest du alt werden?

Natürlich wie alle: Möglichst gesund. Möglichst frei. In einer Demokratie lebend. Und: Glückliche Enkelkinder erleben zu dürfen. Ich habe zwar bisher nur eins. Aber ich muss sagen, das flasht mich total, das habe ich nicht für möglich gehalten. Bei Enkelkindern,  ich habe das neulich mal gelesen, bekommst du praktisch das Glück, das du mit deinen eigenen Kindern erleben durftest, noch mal in Leichtigkeit zurück. Zugleich aber ist ein Leben natürlich von Anfang bis Ende nicht nur  fröhlich, da kommen immer auch blöde Phasen und ich denke, das man in den guten Zeiten dafür Kraft schöpft. Einer meiner Lieblingssätze lautet: Alles geht vorüber. Das Gute. Aber eben auch das Schlechte.

Mehr Informationen:
https://www.susanne-krauss.de

Es gibt wirklich Untersuchungen darüber, dass zum Beispiel Frauen und auch Männer mit grauen Haaren tatsächlich auf der Straße nicht mehr wahrgenommen werden.

Nicole Kraß, 53

Nicole Kraß, 53

Journalistin

Nicole Kraß (53)

 

„Ich bin der MS dankbar. Ohne sie würde ich das alles nicht machen“

Die Journalistin Nicole Kraß war 46 Jahre alt, als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Von einem Tag zum anderen stand ihr Leben Kopf. Das Tauchen half ihr, neues Selbstvertrauen zu finden. Sie gründete „Tauchen mit Handicap“, eine Plattform, auf der sie über ihre Erfahrungen bloggt – und auf der sie Informationen zum Tauchen für Menschen mit Behinderungen bündelt. Im Interview spricht sie über ihre Ängste und Träume  – und wie die MS ihre Perspektive auf das Leben veränderte.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Kannst du dich an den Tag der Diagnose erinnern?

Oh ja, natürlich. Diesen Tag vergisst man nie. Ich hatte zuvor eigentlich eine relativ unspektakuläre Knieoperation. Mein Knie war über Monate hinweg dick gewesen und keiner wusste genau, warum. Dann wurde da einfach mal reingeschaut mithilfe einer Arthroskopie. Als ich dann aber wieder erwachte  aus der Narkose, kribbelten meine Arme, so, als wären sie eingeschlafen. Zuerst dachte ich, das wäre von der Narkose. Das ist dann aber irgendwie nicht weggegangen.

Und dann?

Wurde erst ein Karpaltunnelsyndrom vermutet. Ich sollte das vom Neurologen abklären lassen, und bis der Termin dann endlich ran war, hatte ich bereits ganz andere Symptome. Plötzlich schlief mir der ganze Arm ein, und ständig liefen mir kalte Schauer über den Rücken, so, als würde ich mich vor etwas gruseln. Und bei einem Spaziergang durchzuckte es plötzlich meinen ganzen Körper, es fühlte sich an wie ein Stromschlag. Das ist danach dann auch mehrfach passiert, immer, wenn ich etwa den Kopf ein bisschen nach unten senkte, ob beim Essen oder beim Schuhebinden. Das war schon sehr beängstigend. Karpaltunnel konnte der Neurologe schnell ausschließen. Aber dann stand der Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule im Raum. Ich sollte ins MRT und dann zum Neurochirurgen.

Wie ging es weiter?

Mit dem MRT-Ergebnis bin ich zum Neurochirurgen. Und der schickte mich sehr schnell wieder zurück zum Neurologen. Der hatte nämlich Flecken in der Halswirbelsäule gesehen, die da eigentlich nicht hingehören. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. MRT vom Kopf und Lumbalpunktion. Und am Tag des Kopf-MRT bin ich dann auch mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens aufgewacht. Da war mir schon klar, irgendetwas stimmt nicht. Und auf dem Rückweg vom MRT rief mich, ich saß noch im Auto, ein sehr besorgter Radiologe an. Der sagte, sie müssen ins Krankenhaus. Sie haben eine akute Hirnentzündung und brauchen Kortison.

Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus. Das muss ja ein Vermögen kosten.

Wie hast du reagiert in diesem Augenblick?

Irgendwie habe ich funktioniert. Ich habe einfach das getan, wovon ich dachte, das muss ich jetzt tun, da sind auch noch keine Tränen geflossen. Ich hatte fünf Minuten Zeit, um mit Freunden zu telefonieren und zu klären, ob meine beiden Kinder bei ihnen übernachten können. Mein Mann war zu der Zeit viel im Ausland unterwegs. Den konnte ich nicht einmal erreichen, da er im Flieger auf der Rückreise von Asien war. Drei oder vier Tage später kam dann die finale Diagnose. Das war im Mai 2017. Und ein ganz anderes Leben für mich begann.

Wie geht man um mit solch einer Diagnose?

Also im Krankenhaus selbst war das alles noch gar nicht wirklich greifbar. Ich bewegte mich da in irgendeinem seltsamen Schwebezustand, ich wollte das alles gar nicht wahrhaben. Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus; das muss ja ein Vermögen kosten.

War dir MS damals schon ein Begriff?

MS war mir da schon ein Begriff, weil ich es aus dem Bekanntenkreis kannte. Aber für mich war das zunächst natürlich ein Schlag ins Gesicht. Zwar kann man die Symptome heute  besser behandeln und man schaut, dass die Krankheit nicht so schnell fortschreitet. Trotzdem ist es eine Krankheit, die auch im Hintergrund aktiv ist. Ich bin die erste Zeit wie auf Watte gelaufen. Und zwar im wahrsten Sinne, weil sich die Symptome durch meinen ganzen Körper zogen. Ich lief ganz wackelig und es fühlte sich an, als würde ich den Boden gar nicht mehr so richtig berühren. Und da es sich nicht besserte, bekam ich wieder sehr viel Cortison; 2000 Milligramm Cortison pro Tag im Körper sind wirklich eine Hausnummer. Ich hatte Angst, dass da bald der Rollstuhl steht. Und ich fragte mich: Wie soll es jetzt weitergehen? Auch mit den Kindern? Die sind ja zu dem Zeitpunkt auch noch so klein gewesen.

Wie alt warst du damals?

46 Jahre. Was auch schon außergewöhnlich war, denn man sagt, MS tritt so zwischen 20 und 40 auf. Aber da hatte sich die MS bei mir gleich schon von ihrer gemeinen Seite gezeigt. Die Krankheit hat 1000 Gesichter und du weißt nie, was kommt.

Der Arzt sagt: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.

Was ist für dich heute ein guter Tag und was ein schlechter?

Ein guter Tag ist, wenn ich nicht daran denke. Wenn ich unbeschwert fröhlich meine Dinge tun kann. Und ein schlechter Tag ist, wenn ich aufwache und irgendetwas nicht stimmt. Wenn ich plötzlich einen Schwindel habe. Wenn wieder etwas Neues dazukommt und ich nicht weiß, ist es jetzt die MS oder ist es etwas anderes. Immer schwingt die Sorge mit, die MS könnte weiter voranschreiten.

Wie hat die Krankheit die Perspektive auf dein Leben verändert? Oder: Hat sie es überhaupt?

Für mich war sie tatsächlich auch eine Initialzündung. Ich hatte zwar schon 1995 meinen Tauchschein gemacht, war damals hier und da tauchen, sogar im Great Barrier Reef, noch vor der ersten großen Korallenbleiche. Aber dann kam irgendwie das Leben dazwischen. Studium. Wir haben Kinder bekommen. Ein Haus gebaut. Das Tauchen ist immer weiter in den Hintergrund gerückt. 2017 wollte ich damit eigentlich wieder anfangen. Der Plan war gewesen, mit einer Freundin nach Bali zu fliegen. Aber dann kam die Diagnose, und als ich beim Arzt saß – und der aufzählte, was alles in nächster Zeit auf mich zurollen würde, erzählte ich ihm von meinen Plänen – und er sagte etwas, was ich nie vergessen werde: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.

Eine Art Trotzreaktion, im positiven Sinn?

Ich habe einfach gemerkt, ich brauche das Tauchen für mich. Es ist für mich die allerbeste Therapie. Beim Tauchen sind alle Gedanken weg und auch die Ängste und die Einschränkungen. Irgendwie geht es mir unter Wasser viel besser, da fühle ich mich freier, und deswegen baue ich das jetzt auch immer mehr aus – solange es noch geht.

Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen!

Was findest du beim Tauchen?

Also mal abgesehen davon, dass es natürlich schön ist, die Unterwasserwelt zu sehen. Aber selbst, wenn ich hier im Verein beim Tauchen bin, genieße ich dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, das gibt es sonst nur im All oder im freien Fall. Es ist so herrlich. Man macht eine kleine Bewegung und gleitet ganz leicht und frei durchs Wasser. Ein tolles Gefühl.

Die MS steht dem nicht im Weg?

MS an sich ist keine Kontraindikation, sprich, man kann auch mit MS tauchen. Nicht im akuten Schub, das ist ein NoGo.

Will man vielleicht auch nicht?

Genau. Will man nicht. Und sollte man nicht. Das wäre gefährlich nicht nur für einen selbst, sondern auch für den Partner, mit dem man taucht. Aber auch Betroffene, die nicht laufen können oder andere Einschränkungen oder Spastiken haben, denen tut es eher gut, unter Wasser zu sein, denn unter Wasser ist man einfach leichter und der Wasserdruck sorgt tatsächlich auch dafür, dass zum Beispiel Spastiken ein bisschen mehr ausgeglichen sind.

Später hast Du dann Tauchen mit Handicap gegründet – was war der Auslöser?

Ich hatte mich 2018 für eine Tauchsafari auf dem Roten Meer angemeldet, und am Flughafen sah ich auf dem Weg dorthin eine andere Gruppe von Leuten mit Tauchgepäck, unter ihnen einen Mann im Rollstuhl. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Äh, wieso will der denn in den Tauchurlaub, wie will der denn tauchen? Diesen Mann habe ich später auf einem anderen Boot wieder gesehen und beobachtet, wie er sich für einen Tauchgang fertig machte und ins Beiboot hievte. In dem Moment wurde mir klar: Was der kann, das kann ich auch, selbst, wenn ich durch meine MS-Erkrankung nicht mehr laufen kann. Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen! Nach der Reise habe ich dann nach Infos über das Tauchen mit Behinderung gesucht. Ich habe recherchiert und schnell festgestellt, dass es wenig dazu gibt. Und da kam dann die Idee mit dem Blog, und so kam der Stein ins Rollen. Das Ganze ist dann immer mehr gewachsen. Inzwischen füttere ich regelmäßig meinen Blog und bin in unserem Tauchclub zuständig für das Tauchen mit Handicap.

Mit was für Behinderungen kommen die Menschen zu euch?

Wir hatten einen Rollifahrer mit Spina Bifida. Er konnte als Kind zwar noch laufen, verlor aber nach und nach immer mehr das Gefühl in den Beinen. Und wir hatten einen anderen Rollifahrer mit Querschnitt nach einem Unfall, außerdem andere MS-Erkrankte. Dann hatten wir eine Frau mit Dystonie zum Schnuppertauchen. Dystonie ist auch so eine gemeine Krankheit, die zu starken Muskelverkrampfungen führen kann. Mit ihr waren wir erst einmal nur im warmen flachen Wasser, um zu sehen, ob und wie sie sich unter Wasser fortbewegen kann. Und wir sind mit einem Doppelunterschenkelamputierten getaucht. Der war so begeistert, dass er gleich seinen Tauchschein machte, auch den für fortgeschrittene Taucher.

Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt.

Hast du eigentlich den Mann mit dem Rollstuhl irgendwie mal sprechen können? Er war ja im Prinzip derjenige, der dich inspirierte?

Nein, dazu gab es keine Gelegenheit. Und ich hatte ja bei der ersten Begegnung am Flughafen auch selbst diese sonderbaren Gedanken. Aber jetzt bin ich diejenige, die sagt: Natürlich kannst du tauchen, auch wenn du im Rollstuhl sitzt, und natürlich kannst du tauchen, auch wenn du blind bist. Denn man taucht ja nicht unbedingt nur, um schöne bunte Fische zu sehen. Da gibt es ganz viele andere Beweggründe, etwa dieses wunderbare Schweben im Wasser. Tauchen, das ist so etwas Inklusives und Wunderbares. Ich will jetzt einfach die Vorurteile aus den Köpfen der Menschen herausbekommen, so, wie ich sie auch hatte.

Also Verständnis vermitteln?

Ich sehe mich tatsächlich in einer Art Mittlerrolle. Und ich bekomme inzwischen wirklich viele solcher Anfragen. Eine junge Frau mit einem gelähmten Arm etwa wollte wissen, ob sie auch tauchen könne und worauf sie achten müsse. Ich weiß heute: Es gibt immer für alles Lösungen, es braucht oft nur ein bisschen Kreativität. Und vielleicht etwas mehr Zeit und Einfühlungsvermögen. Mir ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es die Möglichkeit überhaupt gibt, mit einer Behinderung zu tauchen. Deswegen habe ich letztes Jahr auch meinen Divemaster gemacht, das ist quasi die erste professionelle Stufe, um später selbst Taucher ausbilden zu können. Ich habe es Divemaster 50plus genannt, weil, ich war da ja schon über 50. Das Schöne am Tauchen ist, dass das Alter überhaupt keine Rolle spielt. Tauchen kann man nämlich auch mit 80 noch lernen – eine gewisse Fitness vorausgesetzt.

Zurück zur MS. Was bedeutet dir die Krankheit?

Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt. Und tatsächlich bin ich der MS irgendwie dankbar, dass sie in mein Leben gekommen ist. Das mag blöd klingen. Aber sie hat mich eingebremst in meinem Leben und in dem Denken, dass alles selbstverständlich ist. Ohne die MS würde ich das alles heute nicht machen. Und genau das möchte ich weitergeben. Anderen Mut machen, selbst auszuprobieren, ob das Tauchen ihnen auch guttun könnte. Mir persönlich gibt das alles so viel. Mit den Menschen zu reden, ihr Dankeschön, wenn wir uns hinterher in die Arme fallen. Das hätte ich alles tatsächlich ohne diese Erkrankung wahrscheinlich so nicht erlebt. Paradox, oder?

Eben nicht. Natürlich kann man sich ins stille Kämmerlein zurückziehen, das ist die eine Option. Oder aber man wählt den Weg von dem Mann im Rollstuhl.

Genau. Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache. Ich sage immer: Wenn ich das geschafft habe, dann schaffst du das auch.

Mehr Infos unter:
www.tauchen-mit-handicap.de 

Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache. 

Ellen Matzdorf, 60

Ellen Matzdorf, 60

Bestatterin/Hebamme

Ellen Matzdorf, 60

 

„Das Leben ist zu kurz für später“

 

Ellen Matzdorf dürfte eine der wenigen sein, die als Hebamme und Bestatterin zugleich arbeitet, wahrscheinlich ist sie zumindest in Deutschland die einzige. In ihrer Arbeit sieht sie keinen Widerspruch, im Gegenteil, sie sagt: „Ich habe ja auch immer gedacht, ich kann das nicht parallel machen. Aber das war nur in meiner Vorstellung etwas Ungewöhnliches. Sterben ist die normale Schlussfolgerung auf das Leben.“ Gerade ist ihr Buch „Vom ersten bis zum letzten Atemzug“ erschienen, ein sensibles Plädoyer für selbstbestimmtes Leben und Sterben. Ein Gespräch über die Einsamkeit des letzten Augenblicks, den Mut, Träume zu verwirklichen und über die Dinge, auf die es am Ende wirklich ankommt.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Wie reagieren die Menschen darauf, dass Sie als Hebamme und Bestatterin zugleich arbeiten?

Wenn ich irgendwo erzähle, ich bin Hebamme, dann sprechen die Frauen sofort über ihre Geburtserlebnisse. Wenn ich dann aber sage, ich arbeite auch als Bestatterin, dann ist erstmal Stille, dann sind  alle betroffen. Sterben wird heute noch immer nicht als normale Schlussfolgerung auf das Leben anerkannt, Verlust will niemand. Ich habe ja auch immer gedacht, ich kann das nicht parallel machen. Aber das war nur in meiner Vorstellung etwas Ungewöhnliches.

Der Mensch verdrängt lieber, er möchte sich mit dem eigenen Ende nicht auseinandersetzen?

Genau. Auch, weil es unbekannt ist. Wir können ja niemanden fragen, keiner kann uns erzählen, wie es ist, wenn man tot ist. Und dann kommen die ganzen Vorstellungen. Für die einen ist der Tod nur der Übergang in das nächste Leben. Für den anderen ist danach gar nichts mehr. Und wenn da gar nichts mehr ist, warum soll ich mich damit beschäftigen, mich womöglich auch noch darauf vorbereiten? Hinzu kommt: Sterben und Tod, das ist ja auch nochmal ein Unterschied. Sterben ist nur der Weg in den Tod. Und Sterben heute ist nicht so leicht.  Es ist häufig mit Schmerzen verbunden, es ist mit Panik verbunden, mit medizinischem Einsatz. Heute sterben so viele Menschen allein. Wenn man schwer krank ist, darf man noch ins Hospiz, wo man vielleicht dieses Umsorgen hat wie früher in der Großfamilie oder in der Familie.  Aber ansonsten geht man heute zum Sterben ins Krankenhaus und da weiß man ja, wie die Strukturen sind. Da haben alle keine Zeit mehr und sind gestresst. 

Wie gehen Sie mit der eigenen Angst um?

Ich habe keine. Im Moment zumindest bin ich fest davon überzeugt,  dass das schon gelingen wird, dass das schon klappen wird mit dem Sterben. Ich stelle mir auch nicht vor, dass ich dahinsieche oder leide. Und wenn es dann irgendwann so kommt, dann ist es eben so, da muss ich den Umgang mit finden, und das wird auch gelingen.

Es gibt diesen magischen Moment der Geburt, – und in der Sterbebegleitung gibt es den magischen Moment des Sterbens. Das empfinde ich beides als sehr außergewöhnlich oder sehr einzigartige Momente.

Können Sie sich entsinnen, wann Sie das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wurden?

Als unser Hund überfahren worden ist, da war ich – glaube ich – sieben oder acht Jahre alt. Der hat dann aber doch noch gelebt, und er hat auch überlebt. Das war so ein Fastmoment, da kann ich mich gut daran erinnern. Meine Mutter und ihr damaliger Freund hatten den Hund einfach in die Küche gelegt, um ihn dann irgendwo später zu entsorgen. Sie verboten uns zwar, in die Küche zu gehen, aber wir haben uns doch reingeschlichen, es zog uns natürlich zu unserem Hund. Und dann haben wir gemerkt, dass er noch lebt. Die Alten sind dann auch endlich zum Tierarzt gefahren und haben sich gekümmert. Das war so die erste Situation. Und ich war 15 oder 16 Jahre alt, als meine Oma gestorben ist. Sie war sehr krank zum Schluss, und ich musste in die Ferien, das weiß ich noch. Sie sagte zu mir beim Abschied, dass sie nicht mehr will, sie wiederholte das mehrfach und ich dachte damals, ach komm‘. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand nicht mehr leben will. Und dann bin ich unterwegs gewesen, und als ich wiederkam, war sie weg. Ich war ziemlich entsetzt, dass man mir nicht Bescheid gegeben hatte. Meine Schwiegermutter wieder lag zwei Tage mit schwerem Schlaganfall in ihrer Wohnung. Sie hatte sich zwar so ein Netz aufgebaut zusammen mit ihrer Schwester, bei dem es auch darum ging,  einmal am Tag zu telefonieren und wenn der andere nicht reagiert – so der Plan – , dann müsste man schnell hinfahren und gucken, was da los ist. Und dann reagierte meine Schwiegermutter irgendwann tatsächlich nicht auf so einen Anruf und die Tante ist trotzdem nicht losgelaufen, weil sie dachte:  „Wird schon nix sein.“ Und so lag meine Schwiegermutter zwei Tage in ihrer Wohnung, das muss ganz schlimm für sie gewesen sein, weil sie war ja eben noch nicht tot, sondern lag da und niemand kam, um ihr zu helfen. Danach hatte sie noch zwei, drei Schlaganfälle, und als es dann mit ihr vorbei war, empfand ich das als Erlösung.

Heute wäre das vielleicht anders. Es gibt es doch für alles eine App. Gibt es nicht eine, die drückt man und irgendwo im virtuellen Raum weiß dann jemand Bescheid, dass man noch lebt?

Schöner wäre es ja, wenn man einen Freundeskreis hätte oder Ähnliches, der einen auffängt. Es geht ja gar nicht darum, dass man sich Arbeit abnimmt, sondern einfach nur, dass man beieinander ist. Ich kenne eine Gruppe, die hat sich zusammen in einem Friedwald einen Baum gekauft. Irgendwann werden die da alle zusammen nacheinander bestattet. Da sind auch einige Alleinstehende dabei, aber auch einige Paare, die halten Kontakt, die kümmern sich umeinander. Ähnlich war ja mal der Gedanke der Mehrgenerationenshäuser. So etwas finde ich ganz großartig, und es geht ja auch, ohne dass man zusammenwohnt.

Was für Fähigkeiten braucht es, um als Bestatterin und als Hebamme zu arbeiten. Gibt es Überschneidungen?

Ich würde es gar nicht Fähigkeiten nennen. Ich glaube, es reicht, wenn man sich klar macht, dass Leben und Sterben nahe beieinander liegen. Also mir war immer klar, dass wir irgendwann sterben werden, und der eine leider etwas eher. Für mich war das nie ein Thema, da wegzuschauen oder davor wegzulaufen, weil ich bestimmte Dinge, die ich nicht abändern kann, gut hinnehme. Zum Glück habe ich aber auch noch nie den Tod eines eigenen Kindes erleben müssen, dann würde ich das sicher anders sehen. Andererseits: Es ist, wie es ist, und ich kann es nicht verhindern. Und wenn ich es nicht verhindern kann, dann kann ich  wenigstens versuchen, möglichst gut zu begleiten. Ich kann für die Menschen da sein und sie unterstützen, so gut es eben geht.

Was ist Ihnen emotional näher? Die Geburt oder der Tod?

Ich empfinde das als gleichwertig. Es gibt diesen magischen Moment der Geburt, – und in der Sterbebegleitung gibt es den magischen Moment des Sterbens. Das empfinde ich beides als sehr außergewöhnlich oder sehr einzigartige Momente. Allerdings fühle ich mich heute in der Begleitung von Verstorbenen oder einer Sterbebegleitung oder auch in der Begleitung von Beerdigung und Beisetzung tatsächlich wohler, weil viel weniger Druck da ist. Der ist zwar auch da, aber anders. Die Beerdigung muss klappen. Die Musik muss im richtigen Moment abgespielt werden. Die Trauerkarten müssen pünktlich fertig sein. Aber letztendlich ist das alles weniger anstrengend als eine Geburtsbegleitung, die auch mal vier fünf Tage und Nächte dauern kann. Da muss immer alles ganz schnell gehen. Wenn jemand verstorben ist, versuchen wir immer, den Druck rauszunehmen. Weil die Zeit vom Moment des Versterbens bis zur Beisetzung ist ja die einzige, die man noch miteinander hat, und da ist es auch gut, das langsam zu machen, nicht ruckzuck schnell den Verstorbenen unter die Erde zu bringen. Es ist ja auch ein Stück Trauerarbeit oder Bewältigung, sich auf die Verabschiedung gut vorzubereiten.

Wie findet man die richtigen Worte?

Tatsächlich werden bei einer Sterbebegleitung die Worte immer weniger, zumindest war es so bei denen, die ich bisher erlebt habe. Da ist es so gewesen, dass, solange es noch ging, natürlich noch viel gesprochen wurde und auch nochmal Fragen gestellt wurden. Das fand ich auch immer sehr wichtig. Und nachher ging es nur noch ums Dabeisein, ums da sein, um in der Nähe zu sein, um dem Menschen, der stirbt, zu vermitteln, du bist nicht alleine, wir versuchen so gut wie möglich, deine Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn eine Geburt gut läuft und die Frau bei sich ist, dann lässt man sie ja auch am besten in Ruhe und signalisiert nur: ich bin da, ich kann zupacken, wenn es nötig ist, aber du schaffst es alleine. Und so ist es beim Sterben auch. Wir müssen da nicht viel tun, nur signalisieren. Manchmal wollen die Menschen aber alleine sein und sterben einfach nicht, sondern machen das eben erst in dem Moment, in dem man vielleicht gerade den Raum verlassen hat.

Ist das das Wichtigste bei Ihrer Arbeit? Quasi die Schulter anbieten? 

Genau. Eigentlich auf allen Ebenen. Also wir sind einerseits dazu da, die ganzen administrativen Dinge zu erledigen. Das fängt dann bei den Traueranzeigen an und geht bis zum Beantragen der Sterbeurkunde. Aber oft geht es auch einfach nur ums da sein, wenn die Angehörigen das Gefühl haben, sie müssen nochmal reden. Manchmal sind das ganz kleine Anlässe und sie sagen: „Also ich wollte noch mal eben hören, ob die Sterbeurkunde schon da ist.“ Die wissen aber, dass sie noch lange nicht da sein kann. Aber sie rufen dennoch an, weil es gar nicht um die Sterbeurkunde geht, sondern darum, das Herz auszuschütten. Und dann unterhält man sich und spendet Trost oder hört einfach zu.

Dann ist plötzlich wieder ein Tag vorbei, an dem ich ausschließlich gearbeitet habe.

Hat Ihre Arbeit mit dem Tod Ihre Sichtweise auf das Leben verändert?

Mir ist bewusst geworden, wie schnell es gehen kann, dass man nicht mehr zufrieden und glücklich lebt, wie schnell es gehen kann, dass das Leben vorbei ist. Es sind ja eben nicht immer nur die langen Krebserkrankungen oder andere Krankheiten, die zum Tode führen oder weil die Menschen ein hohes Alter erreicht haben, sondern auch die anderen Momente, in denen man eben vielleicht noch mit dem Bruder telefonierte und zwei Minuten später ist er tot. Ich lebe heute bewusster, würde ich sagen. Ich nehme nicht mehr jede Herausforderung an in Form von Streitigkeiten oder wenn ich merke, das ist jetzt überflüssig, sich über so etwas Gedanken zu machen. Heute ist es für mich nicht mehr wichtig, ob jemand an der Kasse vordrängelt. Oder ob die Kellnerin  im Restaurant mich eine Minute länger ignoriert, weil sie gerade selbst im Stress ist. Da habe ich einen anderen Blick bekommen. Da warte ich eben einen Moment und gucke in der Gegend herum. Ist ja auch schön. Und wenn ich spüre, ich brauche eine Pause, nehme ich sie mir heute konsequenter.

Sie lassen sich nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen?

Ich begleite eine alte Dame in Bremen. 2018 haben wir ihren Mann bestattet. Und wir sind irgendwie so ein bisschen aneinander hängen geblieben. Ich besuche sie regelmäßig und kümmere mich um alle möglichen Dinge für sie. Und sie hat irgendwann mal gesagt: „Das Leben ist zu kurz für später.“ Und das ist jetzt immer unser Slogan. Wir schieben nichts auf und gehen ins Cafe oder in die Stadt, weil wir Spaß daran haben.

Welche Dinge sind es, die die Menschen bereuen?

Häufig sind es die zwischenmenschlichen Dinge. Sich nicht getrennt zu haben, in einer Beziehung geblieben zu sein, weil man sie mal begonnen hatte oder vielleicht einen finanziellen Vorteil davon hatte; das eigene Leben nicht gelebt zu haben. Mit einer Dame habe ich gerade eine Vorsorge gemacht, sie ist Mitte, Ende 70, wir sehen uns ab und zu, vor Kurzem bekam sie eine Krebsdiagnose. Und sie sagt auch ganz klar, dass sie es ganz schlimm findet, nie Stellung bezogen zu haben, nie irgendwie mal mutig und stark die eigenen Dinge in die Hand genommen zu haben. Meine Mutter hatte es mit dem Sterben auch nicht ganz so leicht. Und sie hatte immer Schwierigkeiten, ihre Kinder zu lieben und uns das zu zeigen. Darüber hat sie am Ende gesprochen. Dass sie sehrwohl alle ihre Kinder geliebt hat, nicht alle gleich, aber alle geliebt. Solche Wörter wären ihr früher nie über die Lippen gekommen. Wenn sie die Chance gehabt hätte, nochmal von vorne anzufangen, meinte sie, würde sie viele Dinge anders machen.

Ist das nicht interessant? Da rennt der Mensch zeitlebens irgendwelchen materiellen Dingen hinterher; am Ende aber geht es um etwas ganz anderes. Insofern haben Sie auch eine tolle Arbeit, weil Sie tagtäglich immer wieder das Wichtigste vor Augen geführt bekommen. Nämlich: Leben! Das muss etwas sehr Befriedigendes haben.

Ja, das ist so. Ich empfinde mich da auch total im Flow. Viele Jahre etwa war ich gar nicht reisefreudig. Ich bin nicht weggefahren, ich war immer gerne zu Hause, bin vielleicht mal an die Küste gefahren für einen Moment. Aber das mache ich jetzt auch anders, ich merke, dass ich los möchte, Leute treffen, unterwegs sein. Weil, wenn ich zu Hause bin, dann bin ich quasi auch im Betrieb, dann arbeite ich. Und dann merke ich manchmal gar nicht, wie die Zeit vergeht. Und dann ist plötzlich wieder ein Tag vorbei, an dem ich ausschließlich gearbeitet habe.

Was ist das Wichtigste im Leben?

Das Wichtigste im Leben sind Kontakte, zur Familie oder eben auch zu Freunden. Zur Familie allerdings nur, wenn es funktioniert. Ansonsten aber mit Menschen in Interaktion treten, zusammenkommen, sich umeinander kümmern, füreinander da sein und dann eben auch mal gucken, ob man immer in jeder Situation so hart miteinander umgehen muss, wie man das eben auch oft zwischen den Menschen so erlebt.

Und praktisch? Wie notwendig ist etwa eine Sterbeversicherung?

Also ich weiß, dass es gut ist, sich einfach damit mal auseinanderzusetzen. Das ist ja auch ein Prozess, sich damit zu befassen oder es für sich selbst aufzuschreiben. Und dann natürlich auch mal zu gucken, wie kann man das finanzieren. Das Drama beginnt ja da, wenn etwa die Mutter gestorben ist und sie hat drei Kinder hinterlassen. Das eine sagt, wir machen eine Seebestattung, das andere sagt, wir machen Erdbestattung und das nächste sagt, nee, sie wollte hier auf den Friedhof zu Papa. Und dann haben wir drei Menschen und drei Möglichkeiten.

Ab welchem Alter sollte man das klären?

Am besten sofort.

Sofort? Also jeder?

Ich halte auch in Schulen Vorträge, auch in der Grundschule. Ich kenne dort einen Lehrer, dessen beiden Kinder ich zur Geburt begleitet hatte. Früher hatte ich dort im Sexualunterricht immer nur erklärt, wie es mit der Geburt geht, wie das Baby im Bauch wächst und so. Und jetzt machen wir das so, dass ich erzähle, wie das Baby im Bauch wächst und wie es geboren wird. Und auch, wie es dann ist, wenn man stirbt.

Und, wie reagieren die Kinder?

Gut, offen und interessiert, neugierig. Und sie erzählen dann, dass der Kater gestorben ist oder der Vogel oder die Oma. Die haben ja noch nicht diese vielen Erfahrungen wie wir, sie sind ja noch sehr unbelastet. Natürlich sind sie traurig, wenn auf einmal die Lieblingsoma nicht mehr da ist, das ist ja klar. Aber wenn man darüber spricht, können sie es noch viel besser akzeptieren, dass für die Oma vielleicht einfach die Zeit gekommen ist. Würde man das immer alles hinter verschlossenen Türen tun, dann entsteht wieder dieses Mysterium und dann wird es immer geheimnisvoll, gefährlich und Angst behaftet bleiben, weil wir das Thema verdrängt haben.

Buch-Tipp

„Vom ersten bis zum letzten Atemzug“
Ellen Matzdorf
ZS – ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Gebunden mit Schutzumschlag
192 Seiten
ISBN 978-3965843486

Mehr Infos hier:
https://stern-bestattungen.de/

 

Sterben heute ist nicht so leicht.  Es ist häufig mit Schmerzen verbunden, es ist mit Panik verbunden, mit medizinischem Einsatz. Heute sterben so viele Menschen allein.

Silvia (57) und Guido Weihermüller (59)

Silvia (57) und Guido Weihermüller (59)

Selbstversorger

Guido & Silvia Weihermüller

 

„Ich habe das Gefühl, dass wir gerade
die sinnhafteste Zeit unseres Lebens haben“

Viele träumen davon, doch den Mut finden nur wenige: Den Alltag, den Trott hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zu gehen. Silvia (57) und Guido Weihermüller (59) haben es getan. Sie haben ihre Karrieren als Filmproduzenten und Filmemacher in Hamburg beendet und sind als Selbstversorger mit Biohof auf die dänische Insel Aero gezogen. Ihr Skript für das neue Leben: Wine- statt Filmmaker! Im Interview sprechen sie darüber, wie sie erste Startschwierigkeiten überwanden, ihre Partnerschaft gestärkt wurde und warum der Neubeginn eine große Bereicherung ist.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Ziemlich mutig, von der Millionenstadt auf eine Insel in ein anderes Land zu ziehen. Wie leicht ist Euch die Entscheidung gefallen? Gäb es Ängste? 

Silvia: Ich glaube, ich habe gar keine Ängste. Ich habe eher Respekt vor all dem, was wir machen. Und so ein Urvertrauen. Wenn Guido und ich beschließen, gemeinsam eine Sache zu machen, dann ziehen wir das auch durch. Ich frage mich dabei immer: Was ist denn das Schlimmste, was dir passieren kann, mal abgesehen vom Thema Gesundheit, also, was hat man wirklich zu verlieren? Ich glaube, dass man eher traurig ist oder sich ärgert, wenn „hätte, hätte“  das Leben bestimmt. Das gibt es bei uns – glaube ich – nicht so viel, sondern stattdessen: Wir haben Ideen, wir prüfen die gemeinsam – und dann machen wir uns auf den Weg. Und wir wissen, dass es Steine gibt, dass wir durch irgendetwas hindurch müssen, dass wir auch etwas aushalten müssen. Und von daher, sage ich mal, hat die große Lust und die Freude auf das Neue alles andere komplett überwogen.

Guido, siehst Du das ähnlich?

Guido: Ja, wir hatten Respekt vor der Aufgabe – aber keine Angst. Jedes Filmprojekt ist ja, wenn man so will, ein Start-up, immer fängt man bei Null an. Aber wir hatten  eine tolle Übergabe vom Vorbesitzer, hatten uns genau alles erklären lassen. Und wir sind im Winter angereist, das heißt, dadurch war nicht sofort super viel zu tun. Wir konnten uns zunächst auf die Renovierung beschränken und die Nachbarn kennenlernen. Schlimm wurde es allerdings für Silvia, als sie im April  zwei Wochen zeitweilig allein war, weil ich in Deutschland ein Projekt zu Ende bringen musste. In der Zwischenzeit ist dann hier alles explodiert, alles war auf einmal grün, überall musste man gleichzeitig etwas machen. Hinzu kam die Unerfahrenheit. Das war schwierig. Aber wir haben auch gelernt, dass nicht  alles fertig sein muss, nicht alles perfekt.

Silvia: Ich bin sowieso, glaube ich, vom Charakter her nicht so perfektionistisch. Ich mache lieber die Sachen, bevor mich der Gedanke, dass es vielleicht nicht perfekt wird, davon abhält.

Die  Zeit zwischen 30 und 60 ist genauso lang wie die Zeit zwischen 60 und 90.
Daher ist es auch wichtig, dass man sich in seinem Alter noch mal Ziele setzt oder Wagnisse eingeht.

So ein Projekt kostet viel Kraft, es kostet viel Geld, es kostet Zeit. Welche Rolle spielte das Alter? Spielte der Gedanke eine Rolle: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Silvia: Bei mir – ehrlich gesagt – nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass es darum ging und geht, herauszukriegen, wer man ist und was man alles kann. Ich weiß noch, ich wollte das Haus unbedingt. Guidos spontane Frage dagegen war: „Sag mal Silvia, ich bin Regisseur. Soll ich jetzt Bauer werden oder was?“ Und da habe ich gesagt: Ja, und das können wir lernen. Wir können bestimmt so viel lernen, dass wir ganz viel Freude noch miteinander haben und auch hier haben werden. Also das Alter hat uns nicht beschleunigt, sondern eher die Neugier, etwas Neues zu lernen.

Guido: Für mich war Regie immer ein Traumberuf.  Aber wenn man ein gewisses Niveau erreicht hat, wenn man die Branche, die  Mechanismen kennt, wird irgendwann auch das Geliebteste zum Job, man ist so ein bisschen desillusioniert. Silvia hat letztens einen ganz tollen Spruch gebracht, sie sagte: „Die  Zeit zwischen 30 und 60 ist genauso lang wie die Zeit zwischen 60 und 90.“ Daher ist es auch wichtig, dass man sich in seinem Alter noch mal Ziele setzt oder Wagnisse eingeht. Wir sind hier anfangs nicht auf die Insel gekommen, um Vollgas zu geben und Weinbau zu machen. Aber wir haben gemerkt, dass wir noch ganz viel Energie haben und die auch produktiv für uns einsetzen wollen. Wir planen jetzt für die nächsten zehn Jahre, da wollen wir auch noch mal was investieren – und dann gucken wir weiter. Ich finde es cool, im Leben zurückzublicken und zu sagen, ich habe das eine gemacht, das habe ich geliebt, und ich habe etwas anderes gemacht, das habe ich auch geliebt.

Ihr seid mit der Entscheidung im Reinen?

Guido: Es ist ja nicht so, dass alles, was wir machen, funktioniert. Doch Scheitern, das lernt man auch in der Filmbranche. Und dieses Aushalten und mit Rückschlägen umzugehen. Und ich glaube, das kann man in einem gewissen Alter sehr gut. Der andere Aspekt: Die Kinder sind groß, die sind versorgt, die machen ihr eigenes Ding. Für diese Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gibt es ja gar keinen richtigen Namen. Es gibt nur dieses Negative: Midlife-Crisis; aber diese neue Freiheit, die man hat, das ist ein ganz starkes Momentum. Ich glaube, viele Menschen in unserem Alter haben noch etwas zu geben, und sie wollen es auch.

Die Regel nur ist eine andere. Viele  warten auf ihre Rente – und hoffen dann, die Sachen machen zu können, die sie immer machen wollten. Mit Pech aber ist es dann zu spät.

Guido: Es bringt einem aber auch niemand bei. Es geht immer nur um die Frage: Rente mit 67 oder 65 oder 70? Die Diskussion ist nicht: Wie kannst du im Alter produktiv sein und dein Leben gestalten? Oder, wie möchtest du überhaupt alt werden? Wie willst du leben? Das fragen wir uns immer. Passt das jetzt? Wie fühlt sich das an – und wie möchten wir alt werden? 

Lass mal gucken, wo das Gute in dem Scheiß hier jetzt ist!

Silvia, du warst vor einigen Jahren an Krebs erkrankt. Hatte diese Erfahrung die Entscheidung beflügelt, Hamburg hinter sich zu lassen?

Silvia: Nicht, weil ich mit der Endlichkeit  konfrontiert wurde, sondern eher, weil mir  mit der Zeit klar geworden ist,  dass man eben nur e-i-n Leben hat, und dass die Energie, die man jetzt hat, die Energie von jetzt ist. Und dass es deswegen keinen Grund gibt, auf irgendwas zu warten, was einen vielleicht lockt oder was einen treibt oder anschubst.

Guido: Wir müssen aber auch sagen: 2020 war ein Anschubser. Wir sind ja damals alle angehalten worden durch Corona. Wir hatten damals gerade ein Riesenfilmprojekt fertig fürs Kino, der Film sollte in 120 Kinos kommen in Deutschland. Und dann war da der komplette Stopp. Aber wie gesagt, wir kennen das aus der Projektarbeit, wir wissen: Es gibt immer Wellen. Es gibt Positives. Es gibt Negatives. Und in solchen Momenten sagen wir uns – so auch bei Corona – lass mal gucken, wo das Gute in dem Scheiß hier jetzt ist. Und das Gute in dem Scheiß war, dass wir uns Zeit genommen haben, um zu schauen, wo wir stehen, worauf wir Lust haben, was wir uns vorstellen können. Und dann haben wir plötzlich darüber nechgedacht, unseren Lebensmittelpunkt zu verändern.  Wir waren uns einig, dass wir irgendwo leben wollen, wo es weniger Menschen, mehr Horizont und im besten Fall Wasser gibt, in Gedanken sind wir zunächst in Deutschland geblieben.

Silvia: Und dann waren wir in Heidelberg bei unserem Sohn, der damals dort studierte. Die Studenten hatten ein Stück Land gepachtet und dort Obst und Gemüse angebaut. Wir haben dort mitgewässert und  abends darüber gesprochen, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, jetzt, wo sich in der Welt so viel verändert, ob wir uns nicht auch noch ein bisschen mehr verändern wollen. Also nicht nur einen Ort suchen, sondern einen neuen Ort, wo wir viel mehr selbst machen können und mehr lernen. Und dann war das Thema Selbstversorgung  auf einmal in unserem Kopf. Wir änderten die Immobiliensuche im Netz, und der erste Hof, der uns angezeigt wurde, war der Hof hier.

 

 

Was ich habe, ist so ein Urvertrauen. Wenn Guido und ich beschließen, gemeinsam eine Sache zu machen, dann ziehen wir das auch durch. Ich frage mich dabei immer: Was ist denn das Schlimmste, was dir passieren kann – mal abgesehen  vom Thema Gesundheit. Also was hat man wirklich zu verlieren?

Fotos: Privat

Welche Rolle spielt Ihr als Partnerschaft? Wie hat das Projekt Euch vielleicht verändert? 

Guido: Wir haben eine sehr lebendige und intakte Partnerschaft. Wir streiten viel, aber immer in der Sache. Wie in der Produktion und in der Regie, da ist per se auch nicht ein harmonisches Verhältnis. Aber man ergänzt sich, man braucht sich und man kann sich aushalten. Und da ist halt auch ein Vorteil, dass wir uns schon ein bisschen die Hörner abgestoßen hatten durch die Zusammenarbeit mit den Filmproduktionen. Und dass es gut war, dass das Timing gestimmt hat, dass da Zeit war, auch mal etwas anderes zu machen. Und es ist auch spannend, wie sich unsere Rollen entwickelt haben. Silvia war früher mehr eine Supporterin, so eine Möglichmacherin. Sie ist unheimlich gut darin, Menschen Mut zu machen und ihnen Flügel zu verleihen. Und ich war eher der Kreative mit den verrückten Ideen. Nicht, dass wir nicht schon immer auf Augenhöhe zusammengearbeitet hätten, aber jetzt ist es eher so, dass wir zusammen ganz viel Ideen entwickeln.

Silvia: Was uns beide verbindet, ist, dass wir uns beide nicht langweilen wollen, auch nicht miteinander. Und das bedeutet, dass wir beide voneinander verlangen, dass wir flexibel im Kopf und in allem sind. Für mich ist Guido der spannendste Mensch in meinem Leben. Und ich weiß, ich bin auch der spannendste Mensch in seinem. Aber dadurch, dass wir so in der Dynamik miteinander sind, haben es auch viele Menschen schwer, uns auszuhalten. Wir sind schon auch krasse Charaktere. Wenn wir uns langweilen, dann sagen wir das auch.

Selbstständigkeit bedeutet zwar, dass man die Arschlochquote in seinem Leben reduzieren kann. Es bedeutet aber auch Unsicherheit.

Für den Neustart habt Ihr Euer Haus in Hamburg verkauft. Damit befandet Ihr Euch in einer ziemlich privilegierten Situation. Nicht jeder verfügt über einen finanziellen Puffer. Oder täuscht das? Kann jeder so durchstarten?

Guido: Natürlich war es eine privilegierte Situation. Aber ich denke, wir hätten es auch gemacht, wenn es nicht so gewesen wäre.

Silvia: Das Ganze hat ja eine Vorgeschichte. Wir sind ja nicht aus dem Angestelltenverhältnis hier auf diese Insel gegangen, sondern aus einem Prozess heraus. Auch ich habe sehr viel Angestelltenerfahrung, ich habe eine kaufmännische Ausbildung. Aber Stück für Stück habe ich erkannt, dass ich mich in so gepressten Räumen und Arbeitsatmosphären  eingeengt fühle. Also habe ich mich da herausgearbeitet in die Selbstständigkeit. Selbstständigkeit bedeutet zwar, dass man die Arschlochquote in seinem Leben reduzieren kann und bestimmen kann, mit wem oder warum man bestimmte Sachen macht. Es bedeutet aber auch Unsicherheit und dass man sich wirklich ständig darum kümmern muss, weiter zu kommen. Wir haben uns aus eigener Kraft den Weg dorthin gebahnt, wo wir jetzt stehen; der Deal fing viel früher an.

Der Mut zum Aufbruch hat sich mit den Jahren entwickelt? 

Silvia: Zumindest habe ich einen ganz anderen Selbsterhaltungstrieb. Als ich mit 17 Mutti wurde, musste ich mir die Frage stellen: Geht jetzt gar nichts mehr oder jetzt erst recht? Und ich habe mich für „jetzt erst recht entschieden“, weil ich auch eine ganz starke Mami habe, die mir den Rücken gestärkt hat und meinte: „Hey: Das schaffst du.“ Es ist wichtig zu gucken, wo ist die Qualität in deinem Leben und wo musst du wann sein und mit welchem Fokus.

Was ratet Ihr Leuten, die mit ähnlichen Gedanken spielen, also neu aufbrechen und los?

Guido: Wir hatten hier gerade einen niederländischen Weinbauern zu Besuch, der  meinte: „Es kann so viel schiefgehen, und es wird alles schief gehen.“ Das ist jetzt hier kein Paradies, es ist genau wie in der Filmbranche ein Hardcorejob. Aber man empfindet eine andere Ruhe. Man lebt nicht in dieser Babbel, die einen verrückt macht.

Silvia: Wir haben uns klar gemacht, dass wir nur eine Chance haben wirklich anzukommen,  wenn wir uns die Zeit geben. Oberstes Ziel im ersten Jahr war es daher, uns nicht verrückt machen zu lassen, sondern so viel es geht zu lernen.

Guido: Es gab hier schon zwei Ferienwohnungen, und das war natürlich das Tolle, da mussten wir nur reinwachsen in dieses bestehende System. Das andere war, dass ich mich gefragt habe, was ist es denn, was mich genauso begeistert wie das Filmemachen. Und da sind wir dann auf die Idee mit dem Weinanbau gekommen. Das ist jetzt so ein bisschen hier auch unsere Identität. Wir haben sozusagen für ein uns  ganz breites Feld entdeckt, was wir nun mit Inhalten füllen.

Silvia: Die Wege sind hier kurz. Wenn du Gutes tust, ruft dich der Bürgermeister an und sagt: „Finde ich gut, kann ich dir helfen?“ Oder der Tourismus- und Wirtschaftschef  fragt: „Ey, das, was ihr macht,  ist gut für alle. Wie können wir Euch dabei unterstützen“? Das fühlt sich irgendwie gut an. Also ich habe fast das Gefühl, dass wir gerade die sinnhafteste Zeit unseres Lebens haben, weil so viel aus unserem Leben zusammenkommt. Und um nochmal auf deine Frage zur Angst zurückzukommen: Ich hatte keine Angst davor, bei Null anzufangen. Ich glaube, die Grundlage ist, dass wir Menschen mögen und dass wir frei sind, auf sie zuzugehen. Wir haben uns unheimlich schnell vernetzt. Und die Menschen hier haben begriffen, dass wir nicht hierher gekommen sind, um die Schotten dicht zu machen. Sondern, dass wir hier und mit ihnen sein wollen.

Ich war so überrascht von dem, wie ich auf dem Bild strahle.

Guido: Mental ist man hier ganz anders drauf. Ich habe neulich ein Foto gemacht, weil ich es unserem Sohn schicken wollte. Und ich  dachte, als ich es mir das Bild genauer anschaute: „Krass, wie ich lach‘.“ Ich war so überrascht von dem, wie ich auf dem Bild strahle. Und Freunde sagen das auch, dass wir uns verändert haben, dass ich mich verändert habe.

Silvia: Wir haben jetzt erst einmal angefangen, wieder unsere Sinne richtig zu benutzen: Hey, riechst du das? Hey, schmeckst du das?  Also dieses Miteinander mit der Natur, mit den Tieren, das Miteinander auskommen, Sachen zu entdecken, das haben wir in der Stadt alles nicht gehabt – und das ist eine extreme Bereicherung und auch eine extreme Veränderung in meinem Leben. Und es macht mich auch irgendwie ruhig. Ich hatte sonst mehr Umdrehungen. Ich fühle mich hier entspannter. Von Anfang an haben wir gesagt, die Dänen scheinen ja ein glückliches Volk zu sein, gucken wir mal, was wir uns bei ihnen abgucken können. Eine der ersten Erfahrungen im Sommer war, dass wir an einem Sonntagnachmittag in die Bierbrauerei wollten – also eigentlich sind wir nicht wirklich Biertrinker – , aber wir haben gedacht, das ist bestimmt toll, bei 30 Grad um 15 Uhr in einem Biergarten zu sitzen. Aber da war ein Schild mit der Aufschrift: „Wir haben zu, wir sind baden.“ Von den Dänen kann man eben nicht nur lernen, was hyggelig bedeutet, man kann auch lernen, was Gelassenheit bedeutet. Eine Gästin hat mal gesagt, dass man hier ein bisschen im besten Sinne des Wortes verwildert.

Wie geht es jetzt weiter?

Guido: Also ich habe noch keine Pläne für danach, die ergeben sich eher so. Ich bin ja froh, wenn ich jetzt die nächsten zehn Jahre körperlich gut durchhalte: Die Zeit, wo man sich unverwundbar fühlte und überall reinstürzt, so sind wir nicht mehr. Wir sind auch nicht zu naiv oder blauäugig. Einstein hat mal gesagt: „Verrückt ist der, der jeden Tag das Gleiche macht und hofft, dass sich etwas ändert.“ Wir versuchen eher, zu gestalten. Wir sind dabei durchaus demütig. Und wir gehen nicht davon aus, dass alles, was wir machen, immer klappt. Die Erfahrung sagt, du kannst alles richtig machen, alles, was in deinen Möglichkeiten steht – und trotzdem funktioniert es nicht. Dann  braucht es den Spirit zu sagen: Okay, dann machen wir eben etwas anderes. 

Buch-Tipp
Stadt Land Insel –
Wie wir in der dänischen Südsee unser Zuhause fanden
Silvia und Guido Weihermüller
Knesebeck-Verlag
Gebunden mit Schutzumschlag
241 Seiten
ISBN 978-3-95728-703-8

Mehr Infos hier:
https://www.oekogard-aeroe.de/

Für diese Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gibt es ja gar keinen richtigen Namen. Es gibt nur dieses Negative: Midlife-Crisis; aber diese neue Freiheit, die man hat, das ist ein ganz starkes Momentum. Ich glaube, viele Menschen in unserem Alter haben noch etwas zu geben und sie wollen es auch.

Anna von Boetticher, 53

Anna von Boetticher, 53

Apnoetaucherin

Anna von Boetticher, 53

 

Foto: Alois Maurizi

„Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken“

Als Anna von Boetticher im Frühjahr 2007 einen Apnoe-Workshop belegte, ahnte sie nicht, dass sie wenige Monate später deutsche Tiefenrekorde brechen wird. Inzwischen zählt die gebürtige Münchnerin zu den  besten Apnoetaucherinnen weltweit. Ohne technische Hilfsmittel ist sie mit nur einem Atemzug  81 Meter tief getaucht, sie schwimmt mit Haien, Orcas und Mantarochen. Und sie ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er es will.  

Luftaufnahme am Lake Eyre

Foto: Privat

Foto: Alois Maurizi

Sie tauchen seit Ihrem 17. Lebensjahr; wie ist es dazu gekommen?

Ich hatte schon als Kind den Drang, andere Welten zu sehen. Mit 17 hatte ich dann die Gelegenheit, meinen ersten Tauchschein zu machen, im Bodensee, es war Oktober. Bei Nieselregen gingen wir ins wirklich kalte Wasser, ab circa drei Meter Tiefe war es sehr dunkel, man sah kaum etwas. Ich aber war begeistert. Für mich war es eine faszinierende Entdeckungsreise.

Die meisten hätten wohl eher Angst bekommen.

Das ist ja der Witz daran. Ich dagegen fand es damals toll, das waren neue Welten. Da war Schlamm auf dem Boden, da waren alte Coladosen und Autoreifen, ein Aal kam aus dem Loch, ich fands interessant.

Kennen Sie keine Angst?

Ich habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. Ich habe aber halt unter Wasser nie Angst, überlege dann eher, was ich als Nächstes machen muss. Aber Sie haben recht, vielen ist es ungemütlich zumute, wenn sie irgendwo an der Oberfläche schwimmen, unter ihnen das tiefe Unbekannte, sie haben dieses Gefühl von Ausgeliefertsein. Ich dagegen fand das immer faszinierend, und wollte und will auch heute noch immer gucken, was da unten so los ist. Ich möchte eintauchen, ich möchte ein Teil davon sein. Das heißt jetzt aber nicht, dass ich vor nichts Angst hätte.

Sondern? 

Spinnen, Kakerlaken, Krabbeltiere, das ist nicht so mein Ding. Ich springe auch von nichts herunter. Ich mag dieses Gefühl nicht, ich mag auch Achterbahn fahren nicht. Da hab ich zwar keine Angst, dass mir etwas zustößt, aber ich kann dieses Gefühl nicht leiden.

Wie bereiten Sie sich auf einen Tauchgang vor? Gibt es so etwas wie einen Routineablauf? 

Wie ich mich vorbereite, hängt sehr von den äußeren Umständen des Tauchgangs ab. Einen Wettkampftauchgang, in dem es um eine maximale Leistung geht, ist ja etwas anderes als ein Tauchgang für Entdeckungen an einem Ort mit schwierigen Bedingungen, wie zum Beispiel etwa im Eis. Auf jeden Fall gibt es immer einen Moment der Konzentration, bevor es losgeht.

Was müssen Sie auf dem Weg nach unten und nach oben beachten; was ist der schwierigste Teil? 

Bei Tauchgängen, in denen es um das Erreichen einer maximalen Tiefe geht, ist auf dem Weg nach unten das größte Problem der Druckausgleich in Ohren, Stirn und Nebenhöhlen. Ab einer bestimmten Tiefe wird der kompliziert – dann brauche ich meine ganze Aufmerksamkeit, um keinen Fehler zu machen und habe deshalb die Augen geschlossen. Gleichzeitig versuche ich, möglichst entspannt zu bleiben, um wenig Sauerstoff zu verbrauchen. Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken. Unten angekommen, drehe ich mich und mache mich zügig auf den Weg nach oben – da heißt es, einen guten Rhythmus zu halten und sich nicht von brennenden Muskeln irritieren zu lassen. Ein Erkundungstauchgang dagegen ist eine ganz andere Geschichte – der ist vielleicht nicht sehr tief, hat aber unter Umständen ungewöhnliche Herausforderungen, wie etwa eine geschlossene Eisdecke über dem Kopf. Dann geht es zum Beispiel darum, die Orientierung zu behalten und sich in der Tauchzeit stark einzuschränken, um eine hohe Sicherheitsmarge zu haben.

Wie reagiert Ihr Körper auf die Gesamtsituation? 

Wir alle haben den so genannten Tauchreflex, der uns schützt, wenn wir mit dem Gesicht im Wasser sind und nicht atmen können. Es ist eine Art Sauerstoffsparmodus, eine Überlebensfunktion des Körpers, der bei Babys und Kindern besonders stark ausgeprägt ist. Diesen Mechanismus teilen wir übrigens mit Meeressäugern wie Delfinen, Walen oder Robben. Wenn wir mit dem Gesicht im Wasser eintauchen und dabei den Atem anhalten, registriert dieser Körper schnell, dass wir nicht atmen können. Er fängt an, Sauerstoff zu sparen. Dazu wird erst einmal die Herzfrequenz gesenkt – der Puls fällt in meinem Fall bis auf 30 Schläge die Minute, unter Umständen auch noch darunter. Nach einer Weile kommt dann noch eine Verengung der Gefäße hinzu, Blut wird aus Armen und Beinen abgezogen und umverteilt, um die lebenswichtigen Organe wie Herz, Lunge und Gehirn zu versorgen, die jetzt Priorität haben. Dabei erweitern sich die Gefäße zum Gehirn, damit es nach unten gut durchblutet wird. Dieser Vorgang ist sehr effektiv – im Erwachsenenalter wird er bei uns allen schwächer, aber durch Training kann man ihn wieder verstärken und sich so ein Stück weit an die Unterwasserwelt anpassen. Der Mensch ist ein Anpassungswunder. Das zu erleben, ist sehr faszinierend.

Ach habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. 

Foto: NDR/Henning Rütten

Was ist das für eine Welt dort unten? 

Darauf gibt es zahllose Antworten. 80 Meter in einem deutschen See etwa sind anders als 80 Meter in der Karibik, offenes Meer anders als eine Steilwand in Ufernähe. Taucht man in die Tiefe des Mittelmeers weit vom Ufer entfernt, der Grund ist irgendwo, noch weitere hundert Meter entfernt, dann ist es in 80 Metern dämmrig, aber nicht komplett schwarz, wie man meinen könnte. Um einen herum ist glasklares Wasser, in alle Richtungen ist es blau. Schaut man nach unten, dorthin, wo sich das Meer bodenlos anfühlt, ist es schwarzblau, ein wenig wie in einer Wolkennacht, weit draußen irgendwo. Blickt man in die Ferne, in die man gefühlt endlos sehen kann, ist es das intensive Dunkelblau, das das Meer selbst oft hat, wenn man über die Wellen segelt. Nach oben hin wird es heller, durchscheinend, es ist klar, hier geht es zurück. Man sieht das Licht der Tiefe, das jedes mal anders ist – und immer faszinierend und schön. Mit diesem Licht bin ich ein Teil des Ozeans, es ist eine wunderschöne Welt.

Wie fühlt es sich an mit all dem Wasser um und über sich; kann man das mit irgendetwas vergleichen? 

Ich denke nicht, dass man diese Erfahrung mit etwas vergleichen kann. Ich denke auch, dass sie jeder anders erlebt – manche Menschen, auch erfahrene, sehr gute Apnoetaucher kennen den Moment der Angst in der Tiefe, in denen ihnen plötzlich bewusst wird, wie weit weg sie sind, von der Oberfläche. Ich persönlich hatte ihn nie, für mich ist es faszinierend zu spüren, wie sehr ich ein kleiner Teil in einem sehr großen, weiten Raum bin und inwieweit ich mich dort auch aufhalten kann. 

Was denken Sie dort unten?

Je nachdem, was ich dort unten gerade mache, variiert das natürlich. In einem Wettkampftauchgang bin ich erstmal froh, meine Tiefe erreicht zu haben und konzentriere mich dann sofort auf den Rückweg. In anderen Fällen möchte ich mir dort unten vielleicht etwas ansehen, dann fasziniert mich ein besonderer Anblick. Aber immer, egal wie oder warum ich tauche, nehme ich die Tiefe in mich auf – und wenn es nur das Licht ist, dass mich dort umgibt. Es ist jedes mal etwas Besonderes. 

Welche Ausrüstung tragen Sie?

Wir Apnoetaucher brauchen erst mal nur einen Neoprenanzug, eine Maske und Flossen. Man kann aber auch ganz ohne Flossen tauchen oder aber mit einer Monoflosse – ein wenig wie ein Delfinschwanz. Für den Sport und im Wettkampf kommt noch ein Tauchcomputer dazu, von dem man später Tauchtiefe und Zeit ablesen kann, sowie ein Lanyard, mit dem man zur Sicherheit mit einem Seil verbunden ist, an dem entlang man in die Tiefe taucht.

Etwas, was Sie gar nicht mögen, also aufs Tauchen bezogen? 

Ich mag es gar nicht, wenn kaltes Wasser mich berührt – ich schwimme zum Beispiel nicht gerne als Sport, weil mir die meisten Schwimmbäder mit 25 Grad zu kalt sind. Trotzdem bin ich immer wieder im und unter Eis getaucht – bei extremer Kälte unter und über Wasser, weil mich die veränderten Welten interessieren. Dann halte ich die eisigen Temperaturen eben aus – und es ist jedes Mal so spannend, dass ich die Kälte vergesse. Abgesehen von der Planung der Ausrüstung und Ähnlichem bereite ich mich aber nicht besonders darauf vor, ich mache es einfach. Gegen die Kälte wieder schützt nur der Neoprenanzug, allerdings auch nur bedingt, denn mehr als sechs Millimeter sind es nicht, im Eis der Gletscher nur 2,5 Millimeter.

Wie tief wollen Sie noch gehen? Wie tief kann ein Mensch überhaupt tauchen?

Was das angeht, habe ich keine Pläne. Zurzeit hat sich mein Fokus vom Erreichen einer maximalen Tiefe auf das Entdecken ungewöhnlicher Orte und Facetten der Unterwasserwelt verschoben. Wie tief ein Mensch tauchen kann, weiß niemand genau – in jedem Fall tiefer, als man dachte. 

Wann wird Apnoetauchen gefährlich?

Apnoetauchen ist tatsächlich ein sehr sicherer Sport, bei dem es kaum einen Grund gibt, schwere Verletzungen mit bleibenden Schäden davon zu tragen oder gar zu sterben. Das setzt allerdings voraus, dass man die Sicherheitsregeln beachtet, die in diesem Sport üblich sind, etwa: Tauche niemals alleine. Unsere größte Gefahr ist es, im Wasser ohnmächtig zu werden. Diese Ohnmacht kann immer vorkommen – meistens dauert sie nur Sekunden und ist an sich gar nicht schlimm, vorausgesetzt, es ist jemand da, der den Taucher sofort aus dem Wasser holt. Daher bitte niemals alleine, ohne Partner im Wasser den Atem anhalten. Auch nicht in öffentlichen Schwimmbädern – man braucht immer jemanden, der gezielt auf einen achtet. 

Was waren Ihre denkwürdigsten Begegnungen?

Ach, es gibt so viele davon! Eine, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Begegnung mit einem Orca. In Norwegen kommen im Winter große Heringsschwärme vorbei, die wiederum Buckelwale und Orcas anziehen, die die Heringe fressen. Wir trieben damals Mitte November im Dämmerlicht der Polarnacht in einem Fjord, es schneite. Wir hatten vom Boot aus Orcas gesehen und waren ins Wasser gegangen, doch im Moment war alles ruhig. Ich tauchte also ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächsten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club. Es näherte sich bis auf etwa 2 Meter, umkreiste mich und kehrte dann zu seiner Gruppe zurück, die inzwischen im Hintergrund vorbei zog, inklusive Mütter mit Kälbern. Ein unvergleichliches Erlebnis.

Was hat das Leben Sie gelehrt – was hat das Tauchen Sie gelehrt?

Über die Arbeit als Tauchlehrer habe ich früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, auch für andere. Das Tauchen an sich hat mir erlaubt, Schritt für Schritt die Grenzen meines eigenen Könnens zu verschieben und über die vielen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen zu lernen, in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Das ist etwas, was sich auf das ganze Leben überträgt. Das Leben wieder hat mich, wie uns alle, gelehrt, das weder Erfolge noch Rückschläge ewig dauern und mit den Höhen und Tiefen umzugehen, ohne mich darin zu verlieren. 

Was unterscheidet die junge Anna von der Anna von heute?

Wie jeder Mensch, der erwachsen wird, bin ich sehr viel selbstsicherer in meinen Entscheidungen geworden. Ich weiß, was ich wie machen möchte und was nicht – und warum. Das macht vieles einfacher. 

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Keine Ahnung! Ich bin gespannt, was sich bis dahin alles ergibt. Regisseur James Cameron ist mal in einem U-Boot 10 000 Meter zur tiefsten Stelle des legendären Marianengrabens abgetaucht. Später wurde er gefragt, warum er dieses Risiko eingegangen ist. Seine Antwort: „Weil es mein Herz mit Staunen erfüllt.“ Für mich kann ich sagen: „Mein Herz staunt jeden Tag.“

Tipp

Der Film
Der Filmemacher Henning Rütten hat Anna von Boetticher auf ihren aufregenden Abenteuern auf den Azoren, in Mexiko, auf Island und in Budapest begleitet. Entstanden ist daraus die vierteilige Dokumentation „Waterwoman“. Zu finden in der NDR-Mediathek

Das Buch
„In die Tiefe – Wie ich meine Grenzen suchte und Chancen fand“
Anna von Boetticher
Ullstein Verlag
208 Seiten
ISBN 978-3864930706

Mehr Informationen:
https://annavonboetticher.com

Ich tauchte ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club.