Journalistin
Nicole Kraß (53)
„Ich bin der MS dankbar. Ohne sie würde ich das alles nicht machen“
Die Journalistin Nicole Kraß war 46 Jahre alt, als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Von einem Tag zum anderen stand ihr Leben Kopf. Das Tauchen half ihr, neues Selbstvertrauen zu finden. Sie gründete „Tauchen mit Handicap“, eine Plattform, auf der sie über ihre Erfahrungen bloggt – und auf der sie Informationen zum Tauchen für Menschen mit Behinderungen bündelt. Im Interview spricht sie über ihre Ängste und Träume – und wie die MS ihre Perspektive auf das Leben veränderte.
Kannst du dich an den Tag der Diagnose erinnern?
Oh ja, natürlich. Diesen Tag vergisst man nie. Ich hatte zuvor eigentlich eine relativ unspektakuläre Knieoperation. Mein Knie war über Monate hinweg dick gewesen und keiner wusste genau, warum. Dann wurde da einfach mal reingeschaut mithilfe einer Arthroskopie. Als ich dann aber wieder erwachte aus der Narkose, kribbelten meine Arme, so, als wären sie eingeschlafen. Zuerst dachte ich, das wäre von der Narkose. Das ist dann aber irgendwie nicht weggegangen.
Und dann?
Wurde erst ein Karpaltunnelsyndrom vermutet. Ich sollte das vom Neurologen abklären lassen, und bis der Termin dann endlich ran war, hatte ich bereits ganz andere Symptome. Plötzlich schlief mir der ganze Arm ein, und ständig liefen mir kalte Schauer über den Rücken, so, als würde ich mich vor etwas gruseln. Und bei einem Spaziergang durchzuckte es plötzlich meinen ganzen Körper, es fühlte sich an wie ein Stromschlag. Das ist danach dann auch mehrfach passiert, immer, wenn ich etwa den Kopf ein bisschen nach unten senkte, ob beim Essen oder beim Schuhebinden. Das war schon sehr beängstigend. Karpaltunnel konnte der Neurologe schnell ausschließen. Aber dann stand der Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule im Raum. Ich sollte ins MRT und dann zum Neurochirurgen.
Wie ging es weiter?
Mit dem MRT-Ergebnis bin ich zum Neurochirurgen. Und der schickte mich sehr schnell wieder zurück zum Neurologen. Der hatte nämlich Flecken in der Halswirbelsäule gesehen, die da eigentlich nicht hingehören. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. MRT vom Kopf und Lumbalpunktion. Und am Tag des Kopf-MRT bin ich dann auch mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens aufgewacht. Da war mir schon klar, irgendetwas stimmt nicht. Und auf dem Rückweg vom MRT rief mich, ich saß noch im Auto, ein sehr besorgter Radiologe an. Der sagte, sie müssen ins Krankenhaus. Sie haben eine akute Hirnentzündung und brauchen Kortison.
Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus. Das muss ja ein Vermögen kosten.
Wie hast du reagiert in diesem Augenblick?
Irgendwie habe ich funktioniert. Ich habe einfach das getan, wovon ich dachte, das muss ich jetzt tun, da sind auch noch keine Tränen geflossen. Ich hatte fünf Minuten Zeit, um mit Freunden zu telefonieren und zu klären, ob meine beiden Kinder bei ihnen übernachten können. Mein Mann war zu der Zeit viel im Ausland unterwegs. Den konnte ich nicht einmal erreichen, da er im Flieger auf der Rückreise von Asien war. Drei oder vier Tage später kam dann die finale Diagnose. Das war im Mai 2017. Und ein ganz anderes Leben für mich begann.
Wie geht man um mit solch einer Diagnose?
Also im Krankenhaus selbst war das alles noch gar nicht wirklich greifbar. Ich bewegte mich da in irgendeinem seltsamen Schwebezustand, ich wollte das alles gar nicht wahrhaben. Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus; das muss ja ein Vermögen kosten.
War dir MS damals schon ein Begriff?
MS war mir da schon ein Begriff, weil ich es aus dem Bekanntenkreis kannte. Aber für mich war das zunächst natürlich ein Schlag ins Gesicht. Zwar kann man die Symptome heute besser behandeln und man schaut, dass die Krankheit nicht so schnell fortschreitet. Trotzdem ist es eine Krankheit, die auch im Hintergrund aktiv ist. Ich bin die erste Zeit wie auf Watte gelaufen. Und zwar im wahrsten Sinne, weil sich die Symptome durch meinen ganzen Körper zogen. Ich lief ganz wackelig und es fühlte sich an, als würde ich den Boden gar nicht mehr so richtig berühren. Und da es sich nicht besserte, bekam ich wieder sehr viel Cortison; 2000 Milligramm Cortison pro Tag im Körper sind wirklich eine Hausnummer. Ich hatte Angst, dass da bald der Rollstuhl steht. Und ich fragte mich: Wie soll es jetzt weitergehen? Auch mit den Kindern? Die sind ja zu dem Zeitpunkt auch noch so klein gewesen.
Wie alt warst du damals?
46 Jahre. Was auch schon außergewöhnlich war, denn man sagt, MS tritt so zwischen 20 und 40 auf. Aber da hatte sich die MS bei mir gleich schon von ihrer gemeinen Seite gezeigt. Die Krankheit hat 1000 Gesichter und du weißt nie, was kommt.
Der Arzt sagt: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.
Was ist für dich heute ein guter Tag und was ein schlechter?
Ein guter Tag ist, wenn ich nicht daran denke. Wenn ich unbeschwert fröhlich meine Dinge tun kann. Und ein schlechter Tag ist, wenn ich aufwache und irgendetwas nicht stimmt. Wenn ich plötzlich einen Schwindel habe. Wenn wieder etwas Neues dazukommt und ich nicht weiß, ist es jetzt die MS oder ist es etwas anderes. Immer schwingt die Sorge mit, die MS könnte weiter voranschreiten.
Wie hat die Krankheit die Perspektive auf dein Leben verändert? Oder: Hat sie es überhaupt?
Für mich war sie tatsächlich auch eine Initialzündung. Ich hatte zwar schon 1995 meinen Tauchschein gemacht, war damals hier und da tauchen, sogar im Great Barrier Reef, noch vor der ersten großen Korallenbleiche. Aber dann kam irgendwie das Leben dazwischen. Studium. Wir haben Kinder bekommen. Ein Haus gebaut. Das Tauchen ist immer weiter in den Hintergrund gerückt. 2017 wollte ich damit eigentlich wieder anfangen. Der Plan war gewesen, mit einer Freundin nach Bali zu fliegen. Aber dann kam die Diagnose, und als ich beim Arzt saß – und der aufzählte, was alles in nächster Zeit auf mich zurollen würde, erzählte ich ihm von meinen Plänen – und er sagte etwas, was ich nie vergessen werde: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.
Eine Art Trotzreaktion, im positiven Sinn?
Ich habe einfach gemerkt, ich brauche das Tauchen für mich. Es ist für mich die allerbeste Therapie. Beim Tauchen sind alle Gedanken weg und auch die Ängste und die Einschränkungen. Irgendwie geht es mir unter Wasser viel besser, da fühle ich mich freier, und deswegen baue ich das jetzt auch immer mehr aus – solange es noch geht.
Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen!
Was findest du beim Tauchen?
Also mal abgesehen davon, dass es natürlich schön ist, die Unterwasserwelt zu sehen. Aber selbst, wenn ich hier im Verein beim Tauchen bin, genieße ich dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, das gibt es sonst nur im All oder im freien Fall. Es ist so herrlich. Man macht eine kleine Bewegung und gleitet ganz leicht und frei durchs Wasser. Ein tolles Gefühl.
Die MS steht dem nicht im Weg?
MS an sich ist keine Kontraindikation, sprich, man kann auch mit MS tauchen. Nicht im akuten Schub, das ist ein NoGo.
Will man vielleicht auch nicht?
Genau. Will man nicht. Und sollte man nicht. Das wäre gefährlich nicht nur für einen selbst, sondern auch für den Partner, mit dem man taucht. Aber auch Betroffene, die nicht laufen können oder andere Einschränkungen oder Spastiken haben, denen tut es eher gut, unter Wasser zu sein, denn unter Wasser ist man einfach leichter und der Wasserdruck sorgt tatsächlich auch dafür, dass zum Beispiel Spastiken ein bisschen mehr ausgeglichen sind.
Später hast Du dann Tauchen mit Handicap gegründet – was war der Auslöser?
Ich hatte mich 2018 für eine Tauchsafari auf dem Roten Meer angemeldet, und am Flughafen sah ich auf dem Weg dorthin eine andere Gruppe von Leuten mit Tauchgepäck, unter ihnen einen Mann im Rollstuhl. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Äh, wieso will der denn in den Tauchurlaub, wie will der denn tauchen? Diesen Mann habe ich später auf einem anderen Boot wieder gesehen und beobachtet, wie er sich für einen Tauchgang fertig machte und ins Beiboot hievte. In dem Moment wurde mir klar: Was der kann, das kann ich auch, selbst, wenn ich durch meine MS-Erkrankung nicht mehr laufen kann. Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen! Nach der Reise habe ich dann nach Infos über das Tauchen mit Behinderung gesucht. Ich habe recherchiert und schnell festgestellt, dass es wenig dazu gibt. Und da kam dann die Idee mit dem Blog, und so kam der Stein ins Rollen. Das Ganze ist dann immer mehr gewachsen. Inzwischen füttere ich regelmäßig meinen Blog und bin in unserem Tauchclub zuständig für das Tauchen mit Handicap.
Mit was für Behinderungen kommen die Menschen zu euch?
Wir hatten einen Rollifahrer mit Spina Bifida. Er konnte als Kind zwar noch laufen, verlor aber nach und nach immer mehr das Gefühl in den Beinen. Und wir hatten einen anderen Rollifahrer mit Querschnitt nach einem Unfall, außerdem andere MS-Erkrankte. Dann hatten wir eine Frau mit Dystonie zum Schnuppertauchen. Dystonie ist auch so eine gemeine Krankheit, die zu starken Muskelverkrampfungen führen kann. Mit ihr waren wir erst einmal nur im warmen flachen Wasser, um zu sehen, ob und wie sie sich unter Wasser fortbewegen kann. Und wir sind mit einem Doppelunterschenkelamputierten getaucht. Der war so begeistert, dass er gleich seinen Tauchschein machte, auch den für fortgeschrittene Taucher.
Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt.
Hast du eigentlich den Mann mit dem Rollstuhl irgendwie mal sprechen können? Er war ja im Prinzip derjenige, der dich inspirierte?
Nein, dazu gab es keine Gelegenheit. Und ich hatte ja bei der ersten Begegnung am Flughafen auch selbst diese sonderbaren Gedanken. Aber jetzt bin ich diejenige, die sagt: Natürlich kannst du tauchen, auch wenn du im Rollstuhl sitzt, und natürlich kannst du tauchen, auch wenn du blind bist. Denn man taucht ja nicht unbedingt nur, um schöne bunte Fische zu sehen. Da gibt es ganz viele andere Beweggründe, etwa dieses wunderbare Schweben im Wasser. Tauchen, das ist so etwas Inklusives und Wunderbares. Ich will jetzt einfach die Vorurteile aus den Köpfen der Menschen herausbekommen, so, wie ich sie auch hatte.
Also Verständnis vermitteln?
Ich sehe mich tatsächlich in einer Art Mittlerrolle. Und ich bekomme inzwischen wirklich viele solcher Anfragen. Eine junge Frau mit einem gelähmten Arm etwa wollte wissen, ob sie auch tauchen könne und worauf sie achten müsse. Ich weiß heute: Es gibt immer für alles Lösungen, es braucht oft nur ein bisschen Kreativität. Und vielleicht etwas mehr Zeit und Einfühlungsvermögen. Mir ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es die Möglichkeit überhaupt gibt, mit einer Behinderung zu tauchen. Deswegen habe ich letztes Jahr auch meinen Divemaster gemacht, das ist quasi die erste professionelle Stufe, um später selbst Taucher ausbilden zu können. Ich habe es Divemaster 50plus genannt, weil, ich war da ja schon über 50. Das Schöne am Tauchen ist, dass das Alter überhaupt keine Rolle spielt. Tauchen kann man nämlich auch mit 80 noch lernen – eine gewisse Fitness vorausgesetzt.
Zurück zur MS. Was bedeutet dir die Krankheit?
Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt. Und tatsächlich bin ich der MS irgendwie dankbar, dass sie in mein Leben gekommen ist. Das mag blöd klingen. Aber sie hat mich eingebremst in meinem Leben und in dem Denken, dass alles selbstverständlich ist. Ohne die MS würde ich das alles heute nicht machen. Und genau das möchte ich weitergeben. Anderen Mut machen, selbst auszuprobieren, ob das Tauchen ihnen auch guttun könnte. Mir persönlich gibt das alles so viel. Mit den Menschen zu reden, ihr Dankeschön, wenn wir uns hinterher in die Arme fallen. Das hätte ich alles tatsächlich ohne diese Erkrankung wahrscheinlich so nicht erlebt. Paradox, oder?
Eben nicht. Natürlich kann man sich ins stille Kämmerlein zurückziehen, das ist die eine Option. Oder aber man wählt den Weg von dem Mann im Rollstuhl.
Genau. Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache. Ich sage immer: Wenn ich das geschafft habe, dann schaffst du das auch.
Mehr Infos unter:
www.tauchen-mit-handicap.de
Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache.