Apnoetaucherin

Anna von Boetticher, 53

 

Foto: Alois Maurizi

„Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken“

Als Anna von Boetticher im Frühjahr 2007 einen Apnoe-Workshop belegte, ahnte sie nicht, dass sie wenige Monate später deutsche Tiefenrekorde brechen wird. Inzwischen zählt die gebürtige Münchnerin zu den  besten Apnoetaucherinnen weltweit. Ohne technische Hilfsmittel ist sie mit nur einem Atemzug  81 Meter tief getaucht, sie schwimmt mit Haien, Orcas und Mantarochen. Und sie ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er es will.  

Luftaufnahme am Lake Eyre

Foto: Privat

Foto: Alois Maurizi

Sie tauchen seit Ihrem 17. Lebensjahr; wie ist es dazu gekommen?

Ich hatte schon als Kind den Drang, andere Welten zu sehen. Mit 17 hatte ich dann die Gelegenheit, meinen ersten Tauchschein zu machen, im Bodensee, es war Oktober. Bei Nieselregen gingen wir ins wirklich kalte Wasser, ab circa drei Meter Tiefe war es sehr dunkel, man sah kaum etwas. Ich aber war begeistert. Für mich war es eine faszinierende Entdeckungsreise.

Die meisten hätten wohl eher Angst bekommen.

Das ist ja der Witz daran. Ich dagegen fand es damals toll, das waren neue Welten. Da war Schlamm auf dem Boden, da waren alte Coladosen und Autoreifen, ein Aal kam aus dem Loch, ich fands interessant.

Kennen Sie keine Angst?

Ich habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. Ich habe aber halt unter Wasser nie Angst, überlege dann eher, was ich als Nächstes machen muss. Aber Sie haben recht, vielen ist es ungemütlich zumute, wenn sie irgendwo an der Oberfläche schwimmen, unter ihnen das tiefe Unbekannte, sie haben dieses Gefühl von Ausgeliefertsein. Ich dagegen fand das immer faszinierend, und wollte und will auch heute noch immer gucken, was da unten so los ist. Ich möchte eintauchen, ich möchte ein Teil davon sein. Das heißt jetzt aber nicht, dass ich vor nichts Angst hätte.

Sondern? 

Spinnen, Kakerlaken, Krabbeltiere, das ist nicht so mein Ding. Ich springe auch von nichts herunter. Ich mag dieses Gefühl nicht, ich mag auch Achterbahn fahren nicht. Da hab ich zwar keine Angst, dass mir etwas zustößt, aber ich kann dieses Gefühl nicht leiden.

Wie bereiten Sie sich auf einen Tauchgang vor? Gibt es so etwas wie einen Routineablauf? 

Wie ich mich vorbereite, hängt sehr von den äußeren Umständen des Tauchgangs ab. Einen Wettkampftauchgang, in dem es um eine maximale Leistung geht, ist ja etwas anderes als ein Tauchgang für Entdeckungen an einem Ort mit schwierigen Bedingungen, wie zum Beispiel etwa im Eis. Auf jeden Fall gibt es immer einen Moment der Konzentration, bevor es losgeht.

Was müssen Sie auf dem Weg nach unten und nach oben beachten; was ist der schwierigste Teil? 

Bei Tauchgängen, in denen es um das Erreichen einer maximalen Tiefe geht, ist auf dem Weg nach unten das größte Problem der Druckausgleich in Ohren, Stirn und Nebenhöhlen. Ab einer bestimmten Tiefe wird der kompliziert – dann brauche ich meine ganze Aufmerksamkeit, um keinen Fehler zu machen und habe deshalb die Augen geschlossen. Gleichzeitig versuche ich, möglichst entspannt zu bleiben, um wenig Sauerstoff zu verbrauchen. Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken. Unten angekommen, drehe ich mich und mache mich zügig auf den Weg nach oben – da heißt es, einen guten Rhythmus zu halten und sich nicht von brennenden Muskeln irritieren zu lassen. Ein Erkundungstauchgang dagegen ist eine ganz andere Geschichte – der ist vielleicht nicht sehr tief, hat aber unter Umständen ungewöhnliche Herausforderungen, wie etwa eine geschlossene Eisdecke über dem Kopf. Dann geht es zum Beispiel darum, die Orientierung zu behalten und sich in der Tauchzeit stark einzuschränken, um eine hohe Sicherheitsmarge zu haben.

Wie reagiert Ihr Körper auf die Gesamtsituation? 

Wir alle haben den so genannten Tauchreflex, der uns schützt, wenn wir mit dem Gesicht im Wasser sind und nicht atmen können. Es ist eine Art Sauerstoffsparmodus, eine Überlebensfunktion des Körpers, der bei Babys und Kindern besonders stark ausgeprägt ist. Diesen Mechanismus teilen wir übrigens mit Meeressäugern wie Delfinen, Walen oder Robben. Wenn wir mit dem Gesicht im Wasser eintauchen und dabei den Atem anhalten, registriert dieser Körper schnell, dass wir nicht atmen können. Er fängt an, Sauerstoff zu sparen. Dazu wird erst einmal die Herzfrequenz gesenkt – der Puls fällt in meinem Fall bis auf 30 Schläge die Minute, unter Umständen auch noch darunter. Nach einer Weile kommt dann noch eine Verengung der Gefäße hinzu, Blut wird aus Armen und Beinen abgezogen und umverteilt, um die lebenswichtigen Organe wie Herz, Lunge und Gehirn zu versorgen, die jetzt Priorität haben. Dabei erweitern sich die Gefäße zum Gehirn, damit es nach unten gut durchblutet wird. Dieser Vorgang ist sehr effektiv – im Erwachsenenalter wird er bei uns allen schwächer, aber durch Training kann man ihn wieder verstärken und sich so ein Stück weit an die Unterwasserwelt anpassen. Der Mensch ist ein Anpassungswunder. Das zu erleben, ist sehr faszinierend.

Ach habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. 

Foto: NDR/Henning Rütten

Was ist das für eine Welt dort unten? 

Darauf gibt es zahllose Antworten. 80 Meter in einem deutschen See etwa sind anders als 80 Meter in der Karibik, offenes Meer anders als eine Steilwand in Ufernähe. Taucht man in die Tiefe des Mittelmeers weit vom Ufer entfernt, der Grund ist irgendwo, noch weitere hundert Meter entfernt, dann ist es in 80 Metern dämmrig, aber nicht komplett schwarz, wie man meinen könnte. Um einen herum ist glasklares Wasser, in alle Richtungen ist es blau. Schaut man nach unten, dorthin, wo sich das Meer bodenlos anfühlt, ist es schwarzblau, ein wenig wie in einer Wolkennacht, weit draußen irgendwo. Blickt man in die Ferne, in die man gefühlt endlos sehen kann, ist es das intensive Dunkelblau, das das Meer selbst oft hat, wenn man über die Wellen segelt. Nach oben hin wird es heller, durchscheinend, es ist klar, hier geht es zurück. Man sieht das Licht der Tiefe, das jedes mal anders ist – und immer faszinierend und schön. Mit diesem Licht bin ich ein Teil des Ozeans, es ist eine wunderschöne Welt.

Wie fühlt es sich an mit all dem Wasser um und über sich; kann man das mit irgendetwas vergleichen? 

Ich denke nicht, dass man diese Erfahrung mit etwas vergleichen kann. Ich denke auch, dass sie jeder anders erlebt – manche Menschen, auch erfahrene, sehr gute Apnoetaucher kennen den Moment der Angst in der Tiefe, in denen ihnen plötzlich bewusst wird, wie weit weg sie sind, von der Oberfläche. Ich persönlich hatte ihn nie, für mich ist es faszinierend zu spüren, wie sehr ich ein kleiner Teil in einem sehr großen, weiten Raum bin und inwieweit ich mich dort auch aufhalten kann. 

Was denken Sie dort unten?

Je nachdem, was ich dort unten gerade mache, variiert das natürlich. In einem Wettkampftauchgang bin ich erstmal froh, meine Tiefe erreicht zu haben und konzentriere mich dann sofort auf den Rückweg. In anderen Fällen möchte ich mir dort unten vielleicht etwas ansehen, dann fasziniert mich ein besonderer Anblick. Aber immer, egal wie oder warum ich tauche, nehme ich die Tiefe in mich auf – und wenn es nur das Licht ist, dass mich dort umgibt. Es ist jedes mal etwas Besonderes. 

Welche Ausrüstung tragen Sie?

Wir Apnoetaucher brauchen erst mal nur einen Neoprenanzug, eine Maske und Flossen. Man kann aber auch ganz ohne Flossen tauchen oder aber mit einer Monoflosse – ein wenig wie ein Delfinschwanz. Für den Sport und im Wettkampf kommt noch ein Tauchcomputer dazu, von dem man später Tauchtiefe und Zeit ablesen kann, sowie ein Lanyard, mit dem man zur Sicherheit mit einem Seil verbunden ist, an dem entlang man in die Tiefe taucht.

Etwas, was Sie gar nicht mögen, also aufs Tauchen bezogen? 

Ich mag es gar nicht, wenn kaltes Wasser mich berührt – ich schwimme zum Beispiel nicht gerne als Sport, weil mir die meisten Schwimmbäder mit 25 Grad zu kalt sind. Trotzdem bin ich immer wieder im und unter Eis getaucht – bei extremer Kälte unter und über Wasser, weil mich die veränderten Welten interessieren. Dann halte ich die eisigen Temperaturen eben aus – und es ist jedes Mal so spannend, dass ich die Kälte vergesse. Abgesehen von der Planung der Ausrüstung und Ähnlichem bereite ich mich aber nicht besonders darauf vor, ich mache es einfach. Gegen die Kälte wieder schützt nur der Neoprenanzug, allerdings auch nur bedingt, denn mehr als sechs Millimeter sind es nicht, im Eis der Gletscher nur 2,5 Millimeter.

Wie tief wollen Sie noch gehen? Wie tief kann ein Mensch überhaupt tauchen?

Was das angeht, habe ich keine Pläne. Zurzeit hat sich mein Fokus vom Erreichen einer maximalen Tiefe auf das Entdecken ungewöhnlicher Orte und Facetten der Unterwasserwelt verschoben. Wie tief ein Mensch tauchen kann, weiß niemand genau – in jedem Fall tiefer, als man dachte. 

Wann wird Apnoetauchen gefährlich?

Apnoetauchen ist tatsächlich ein sehr sicherer Sport, bei dem es kaum einen Grund gibt, schwere Verletzungen mit bleibenden Schäden davon zu tragen oder gar zu sterben. Das setzt allerdings voraus, dass man die Sicherheitsregeln beachtet, die in diesem Sport üblich sind, etwa: Tauche niemals alleine. Unsere größte Gefahr ist es, im Wasser ohnmächtig zu werden. Diese Ohnmacht kann immer vorkommen – meistens dauert sie nur Sekunden und ist an sich gar nicht schlimm, vorausgesetzt, es ist jemand da, der den Taucher sofort aus dem Wasser holt. Daher bitte niemals alleine, ohne Partner im Wasser den Atem anhalten. Auch nicht in öffentlichen Schwimmbädern – man braucht immer jemanden, der gezielt auf einen achtet. 

Was waren Ihre denkwürdigsten Begegnungen?

Ach, es gibt so viele davon! Eine, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Begegnung mit einem Orca. In Norwegen kommen im Winter große Heringsschwärme vorbei, die wiederum Buckelwale und Orcas anziehen, die die Heringe fressen. Wir trieben damals Mitte November im Dämmerlicht der Polarnacht in einem Fjord, es schneite. Wir hatten vom Boot aus Orcas gesehen und waren ins Wasser gegangen, doch im Moment war alles ruhig. Ich tauchte also ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächsten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club. Es näherte sich bis auf etwa 2 Meter, umkreiste mich und kehrte dann zu seiner Gruppe zurück, die inzwischen im Hintergrund vorbei zog, inklusive Mütter mit Kälbern. Ein unvergleichliches Erlebnis.

Was hat das Leben Sie gelehrt – was hat das Tauchen Sie gelehrt?

Über die Arbeit als Tauchlehrer habe ich früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, auch für andere. Das Tauchen an sich hat mir erlaubt, Schritt für Schritt die Grenzen meines eigenen Könnens zu verschieben und über die vielen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen zu lernen, in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Das ist etwas, was sich auf das ganze Leben überträgt. Das Leben wieder hat mich, wie uns alle, gelehrt, das weder Erfolge noch Rückschläge ewig dauern und mit den Höhen und Tiefen umzugehen, ohne mich darin zu verlieren. 

Was unterscheidet die junge Anna von der Anna von heute?

Wie jeder Mensch, der erwachsen wird, bin ich sehr viel selbstsicherer in meinen Entscheidungen geworden. Ich weiß, was ich wie machen möchte und was nicht – und warum. Das macht vieles einfacher. 

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Keine Ahnung! Ich bin gespannt, was sich bis dahin alles ergibt. Regisseur James Cameron ist mal in einem U-Boot 10 000 Meter zur tiefsten Stelle des legendären Marianengrabens abgetaucht. Später wurde er gefragt, warum er dieses Risiko eingegangen ist. Seine Antwort: „Weil es mein Herz mit Staunen erfüllt.“ Für mich kann ich sagen: „Mein Herz staunt jeden Tag.“

Tipp

Der Film
Der Filmemacher Henning Rütten hat Anna von Boetticher auf ihren aufregenden Abenteuern auf den Azoren, in Mexiko, auf Island und in Budapest begleitet. Entstanden ist daraus die vierteilige Dokumentation „Waterwoman“. Zu finden in der NDR-Mediathek

Das Buch
„In die Tiefe – Wie ich meine Grenzen suchte und Chancen fand“
Anna von Boetticher
Ullstein Verlag
208 Seiten
ISBN 978-3864930706

Mehr Informationen:
https://annavonboetticher.com

Ich tauchte ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club.