Kristin Schnell, 56

Kristin Schnell, 56

Fotografin

Kristin Schnell, 56

 

Kristin Schnell Fotografin OF CAGES & Feathers

„Ziegen und Schafe sind der Oberknaller. Die sehen immer lustig aus“

Ihre Fotos sind eine Offenbarung: Knallig bunt wie Konfetti und zugleich so berührend, dass es einem die Seele wärmt. Kristin Schnell hat in der Tierfotografie neue Maßstäbe gesetzt. Ihre Models findet sie auf dem Gnadenhof oder inszeniert sie kunstvoll in der Voliere. Mit ihren Bildern  gibt sie den Tieren nicht nur ihre Würde zurück; sie sind zugleich ein starker Appell für eine artgerechte Haltung und Mahnung, die Schicksale der Tiere nicht zu vergessen. Kristin Schnell sagt: „Die Tiere inspirieren mich, und vielleicht kann ich durch meine Arbeit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit darauf lenken, wie wir mit unseren Mitmenschen und den anderen Kreaturen auf diesem Planeten besser umgehen können – und auch, wie wir vielleicht besser mit uns selbst umgehen.“ 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Fotos: Kristin Schnell

Vor knapp vier Jahren zog Kristin Schnell von Berlin gemeinsam mit ihrem Mann nach Mecklenburg an die Ostsee. Der Wechsel aufs Land wurde für die Fotografin zu einer Art Weckruf und veränderte ihre Arbeit, weg von der Werbe- und Modefotografie hin zur fotografischen Auseinandersetzung mit Tieren. Entstanden ist dabei etwa die Serie „Not good enough“, für die sie auf dem Gnadenhof „Lotti“ traumatisierte und verletzte Tiere porträtierte, um auf deren Schicksal aufmerksam zu machen.  Für ihre Bilder genießt die 56-Jährige internationale Anerkennung; gerade ist ihr wunderschöner Bildband Of Cages and Feathers erschienen. Ein Gespräch über Massentierhaltung, die Kunst der Lichtsetzung und darüber, welches Tier das größte Fotoshooting-Potenzial besitzt.

 

Frau Schnell, wie sind Sie zur Tierfotografie gekommen?

Ich habe schon immer gerne Tiere fotografiert und sie inszeniert. Mit 13 Jahren fing ich damit an. Irgendwann aber hieß es: ,Was willst du eigentlich immer mit diesen Tierfotos? Das interessiert doch niemanden.‘ Deswegen habe ich es erst einmal gelassen. Aber als ich mit meinem Mann nach Mecklenburg zog, dachte ich, das wäre eine gute Gelegenheit herauszufinden, was wirklich in mir steckt. Ich fragte mich: ,Was bringt dich eigentlich dazu, morgens aufzustehen und Freude zu empfinden?‘ Die Antwort war: die Tierfotos.

Wenn Sie sagen, Sie haben schon immer Tiere fotografiert, von was für Tieren reden wir da?

Ich erinnere mich etwa daran, dass wir einmal den Wellensittich von Freunden zu Besuch hatten. Er war gelb, und ich habe ihn vor einem gelben Hintergrund auf eine Zitrone gesetzt. Eigentlich war das damals gar nicht so anders als das, was ich heute mache – nur jetzt natürlich professioneller und mit 30 Jahren Berufserfahrung.

Umzug führte zu Wandel in fotografischer Ausrichtung

Und dann?

Als wir aufs Land zogen, wurde mir klar, was Tierhaltung wirklich bedeutet. Nicht, dass ich das nicht liebe, wo ich lebe, aber meine Nachbarn etwa hielten Hasen in kleinen Boxen in der Garage ohne Licht,  und wenn die geschlachtet wurden, dann wurden die teilweise vor ihren Kameraden hingerichtet. Ich dachte, das gibt es doch nicht. Ich rief dann bei den Massentierhaltern in der Umgebung an, um zu fragen, ob ich ihre Tiere fotografieren dürfe, die Antwort war aber immer die gleiche: ,Du spinnst wohl‘. Dann stieß ich auf den Gnadenhof – damit begann ein neues Kapitel. Zuerst fotografierte ich nur Tiere mit weißem Fell, um ihr gemeinsames Schicksal zu dokumentieren, später dann alle anderen.

Der Umzug aufs Land veränderte Ihre Wahrnehmung?

Bis dahin hatte ich eine andere Vorstellung von Tierhaltung. Plötzlich aber befand ich mich in einer Gegend, in der Massentierhaltung existiert oder die Menschen einfach nicht gut mit den Tieren umgehen.

Fotografie auf dem Gnadenhof

Sie landeten in der Realität?

Ja, Wahnsinn! Es ist zwar schön bei uns, aber abends oder nachts kommen die Trecker und behandeln die Felder mit Pestiziden. Ich bin noch mit den Feldlerchen aufgewachsen, hier aber gibt es gar nichts mehr, vielleicht sieht man mal einen Hasen oder einen Fasan, aber das ist selten. Das liegt an den Monokulturen, die hier angebaut werden. Das sind keine essbaren Pflanzen, sondern sie werden zur Produktion von Biogas genutzt. Für mich sind die porträtierten Vögel eine Metapher für Freiheit, auch für meine eigene. Die Tiere inspirieren mich, und vielleicht kann ich durch meine Arbeit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit darauf lenken, wie wir mit unseren Mitmenschen und den anderen Kreaturen auf diesem Planeten besser umgehen können – und auch, wie wir vielleicht besser mit uns selbst umgehen.

Wie reagierten die Tiere auf dem Gnadenhof Sie?

Es war, als spürten sie in diesem Moment die besondere Aufmerksamkeit  – vielleicht merkten sie sogar, dass es etwas Positives ist. Die Tiere, die auf dem Gnadenhof leben, wurden von ihren früheren Besitzern ja nicht eben gut behandelt, sie haben ein ziemlich bitteres Leben hinter sich.

Es war, als spürten die Tiere in diesem Moment die besondere Aufmerksamkeit  – vielleicht merkten sie sogar, dass es etwas Positives ist.

Fotos: Kristin Schnell

Wie durchgeplant gehen Sie bei der Arbeit vor?

Ich schaue mir die Tiere vorher an und überlege, welche Hintergrundfarbe am besten zu ihnen passt. Am Anfang, wie gesagt, habe ich nur weiße Tiere fotografiert. Aber später kombinierte ich Farben, weil gerade eine zweite Farbe das Potenzial der ersten noch stärker zur Geltung bringt. Zum Beispiel habe ich zwei braune Ziegen vor einem blauen Hintergrund fotografiert, das sah irre schön aus. Ich arbeite oft mit kräftigem Gegenlicht und setze vorne ein härteres Licht im Stil der 1920er-Jahre ein – ähnlich wie damals bei Filmstars oder in der Beauty-Fotografie.

Was geht in Ihnen während der Arbeit vor?

Eigentlich nicht so viel. Beim Fotografieren nehme ich nicht so sehr Kontakt zu den Tieren auf, sondern konzentriere mich eher auf meine Arbeit hinter der Kamera. Aber es ist, als nutzen die Tiere die Bühne für sich selbst. Da war zum Beispiel ein Esel: Zunächst war er sehr schüchtern. Ein Jahr später aber fotografierte ich ihn erneut und er war kaum wiederzuerkennen. Er schaute nicht mehr scheu nach unten, sondern lachte jetzt sogar, weil seine Pflegerin mit ihm das Lachen geübt hatte. Dieser Esel hatte tatsächlich sein Vertrauen in die Menschen zurückgewonnen. 

Herangehensweise an die Fotografie

Welches Schicksal beschäftigte Sie besonders?

Am grausamsten finde ich die Massentierhaltung von Hühnern. Tausende Tiere, die  ohne Tageslicht auf engstem Raum leben und ständig Eier legen müssen, bis  ihre Hintern wund und blutig sind. Nach 14 Monaten werden sie dann mit LKWs nach Polen oder anderswohin transportiert, wo man sie lebendig schreddert, weil sie sowieso schon so ein beschissenes Leben hatten. Anschließend kommen sie als Tierfutter zurück. Das nennt sich dann „Haltungsform vier“, mit der man noch großspurig wirbt. Bei uns in der Gegend gibt es übrigens keinen einzigen Supermarkt, der Fleisch aus ethischer Tierhaltung anbietet.

Das ist bitter.

Manchmal können Gnadenhöfe Tiere freikaufen oder Tierschützer versteckte Hühner retten, bevor Ställe gereinigt werden. Innerhalb von Monaten erholen sich die Tiere sichtbar, auch wenn sie dann oft nur noch eine Lebenserwartung von höchstens zwei Jahren haben; den Stress der Vergangenheit können sie nicht mehr aufholen. Sie sitzen dann aber wenigstens in der Sonne, scharren im Boden, ihre Federn wachsen nach, und nach drei bis vier Wochen legen sie auch nicht mehr ständig Eier. 

Neue Perspektiven 

Kann ein Foto zu realistisch, zu gut sein?

Ich denke, ein Foto kann nicht zu schön oder zu intensiv sein. Manche Tiere fotografiere ich bewusst ein bisschen kitschig, um Aufmerksamkeit zu erregen und um zu vermeiden, dass die Leute denken: ,Ach, schon wieder so ein misshandeltes Tier‘. Deshalb separiere ich die Tiere auch aus ihrer natürlichen Umgebung, damit nichts ablenkt und der Blick ausschließlich auf das Tier gerichtet ist.

Wodurch wird ein Porträt besonders berührend?

Wenn die Tiere auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen oberflächlich schön wirken, man aber auf den zweiten Blick erkennt, dass es geschundene Kreaturen sind. Wenn zum Beispiel ein Auge fehlt, ein Ohr verletzt ist, der Rücken krumm oder die Hufe entzündet sind. So etwas berührt.

Tiere mit Model-Qualitäten

Welches Tier hat das größte Fotoshooting-Potenzial, wer sind echte Poser?

Das sind definitiv die Ziegen, die sind der Oberknaller. Oder die Schafe. Die sehen immer lustig aus, egal, wie die sich hinstellen. Sie sind neugierig und witzig. Einmal war da eine grau gestreifte Straßenkatze, immer, wenn ich im Stall fotografierte, saß sie im Hintergrund und beobachtete uns. Die Tierpflegerin meinte: ‚Mensch, fotografiere sie doch mal!‘ Als ich das tat, stellte sich die Katze plötzlich auf die Hinterbeine, als wollte sie sagen: ‚Schau, ich habe auch weißes Fell am Bauch!'“

Echt?

Es war, als wollte sie schon die ganze Zeit fotografiert werden. Und als es endlich soweit war, setzte sie sich wirklich perfekt in Szene.

Zukünftige Vorhaben 

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit heute von früher?

In den vergangenen dreißig Jahren habe ich vor allem Kinder und Jugendliche fotografiert, oder in der Werbung gearbeitet – zum Beispiel für Nuk, die Schnullerfirma, oder für Kataloge. Ein Teil der Shootings fand auf Curaçao statt. In der Karibik aber ist das Licht zur Mittagszeit immer senkrecht, sodass man nur mit zusätzlichem künstlichem Licht fotografieren kann. In dieser Zeit habe ich unglaublich viel über Lichtsetzung gelernt, davon profitiere ich heute, ich muss nicht mehr viel experimentieren.

Welche Parallelen gibt es zwischen Tierfotografie und Kinder-/Jugendmode? 

Im Grunde sind beides professionelle Schnappschüsse. Auch mit Kindern kann man, je nach Alter, vielleicht maximal eine halbe Stunde arbeiten. Das Set muss vollständig aufgebaut sein, die Kleidung bereits angezogen, und dann setzt man das Kind hinein. Man hat dann nur wenige Minuten, in denen alles passen muss. Bei meinen Vögeln ist es allerdings anders, da muss ich viel mehr Geduld aufbringen, weil die Voliere so groß ist und sich das Licht ständig verändert. Da muss ich lernen loszulassen, aber gleichzeitig sofort bereit zu sein, wenn der Moment da ist.

Gewonnene Freiheit

Wie hat der Umzug aufs Land Sie verändert?

Zum Beispiel in Bezug auf meine eigene Freiheit. Eigentlich wollte ich nie Grundbesitz oder ein Haus haben, weil ich mir die Möglichkeit offenhalten wollte, jederzeit woanders hinziehen zu können. Ich fand das Landleben auch immer etwas beengend, aber jetzt, wo wir ein schönes Haus haben und viel Platz für Freunde, habe ich das Gefühl, ein Stück meiner eigenen Freiheit gewonnen zu haben.

Gibt es Pläne, die Arbeit auf dem Gnadenhof fortzusetzen?

Das wäre schön. Aber bisher haben die Verlage eher abgewinkt; sie sehen darin mehr ein Sachbuch als ein Kunstbuch. In den letzten sechs Monaten habe ich mich vor allem auf mein Vogelbuch konzentriert, und auch in der nächsten Zeit werde ich daran weiterarbeiten.

Der Blick zurück 

Was hätten Sie rückblickend gerne früher gewusst? 

Ich hätte gerne früher gewusst, daß die letzten 30 Jahre die Männer bevorzugt wurden, in der Modefotografie und in der Kunstwelt. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, Frauen werden ernster genommen und haben es dadurch in der Kunstwelt inzwischen etwas einfacher.

Was machen Sie heute anders als früher?  

Ich versuche nicht mehr etwas zu erzwingen, sondern bin gelassener.

 

Buch-Tipp
Of Cages and Feathers
Kristin Schnell
KEHRER Verlag
128 Seiten
ISBN 978-3969001806

Mehr Informationen:
https://www.kristin-schnell.de/

Infos zum Gnadenhof: 
https://www.aktiontier-lottihof.de/

Ich versuche, Freiheit in meinen Bildern zu schaffen, indem ich meine eigenen Grenzen überschreite.

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Tanja Köhler gehört zu der Sorte Mensch, die morgens gut gelaunt in den Tag springt und die auch sonst nichts leicht aus der Bahn wirft. Auf einer Glücks-Skala von eins bis zehn ordnet sie sich selbst bei 12 ein. Ihr Weg dorthin führte über einen beruflichen Neustart, eine Scheidung und viele inneren Disput. Ihr Rat an andere: ‚Schaut in den Spiegel – und stellt euch die Frage: Was ist es, was dich glücklich macht?‘ Ein Gespräch über Irrwege, Klarheit  – und Gänseblümchen des Alltags.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Du arbeitest als Radiomoderatorin, Coach, Beraterin, bist Bestsellerautorin. Wer und wie viele bist du denn?

Ich bin eine schizophrene Persönlichkeit. Man könnte sagen: Von allem ein bisschen. Meine Neugierde auf diese Welt lässt mich in viele Richtungen schauen, ich mag mich tatsächlich nicht gerne festlegen. So bin ich etwa auch ein Naturmensch, das wird, glaube ich, immer etwas vergessen.

Stimmt. In deinem Buch „Rauhnächte“ sprichst du über deine Neujahrswanderungen. 

Ja. Diese Wanderungen gehören seit vielen Jahren zu meinen festen Ritualen. Aber auch sonst bin ich jeden Tag bei Wind und Wetter mindestens zwei Stunden draußen. Ich habe einen riesigen Hund, den Luke, der treibt mich an. Morgens um 7 Uhr geht es los. Mittags will er auch noch mal, und abends, wenn ich Lust habe, gehe ich auch noch mal mit ihm raus. Das ist toll, das sortiert das Leben.

Gott sei Dank habe ich meinen Trotzkopf durchgesetzt.

Gilt das schon als Selbsttherapie?  

Die Natur gibt mir einfach viel. Und doch sind diese Spaziergänge für mich aber auch eine Art kreativer und klärender Prozess. Beim Gehen befinde ich mich in einem inneren Dialog. Ich habe immer das Handy dabei und sende mir kurze Sprachnachrichten, wenn ich etwa eine Lösung für ein Problem gefunden habe oder mir eine kreative Redewendung einfällt, das mache ich alles von unterwegs.

Du hast einmal gesagt, auf einer Glücksskala von 1 bis 10 würdest du dich bei 12 einordnen. 

Mir geht es tatsächlich gut, ich bin glücklich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht auch schlechte Tage hätte. Die kommen allerdings nur zweimal im Jahr vor. Und was auch nicht heißt, dass ich ein einfaches Leben hätte. Insgesamt aber bewege ich mich auf einer ganz tollen Basis.

Wie bist du dahin gekommen?  

Ich habe in meinem Leben zwei riesige Lebensentscheidungen getroffen, ich nenne sie „Bäm-Entscheidungen. Das eine war eine schwerwiegende berufliche Entscheidung. Nach dem Abitur machte ich eine Ausbildung zur Kauffrau im Groß- und Außenhandel  – und arbeitete in dem Bereich auch vier Jahre. Dann merkte ich aber schnell, dass das nichts für mich ist und meldete mich heimlich für ein Studium in Psychologie an. Als ich meinen Eltern davon erzählte, sagte mein Vater: ‚Wenn du das machst, dann habe ich keine Tochter mehr.‘ Meine Eltern waren zwar nicht prinzipiell gegen ein Studium; nach dem Abitur hätte ich direkt eines machen können. Sie konnten nur nicht verstehen, dass ich einen gut bezahlten Job für ein Studium aufgebe – zumal ich in der Schule nicht gewesen bin. Gott sei Dank aber habe ich mich nicht irritieren lassen, sondern meinen Trotzkopf durchgesetzt.

Paare spüren, wann etwas zu Ende ist.

Und die zweite Entscheidung?

War die Trennung von meinem Mann nach 23 Jahren und einem gemeinsamen Kind. Am Schluss war es dann zwar eine einvernehmliche, tolle Trennung, aber ich habe acht Jahre für diese Entscheidung gebraucht.

Was war passiert?  

Wir haben noch das 100er Fest miteinander gefeiert, das heißt, wir haben beide zusammen unseren jeweiligen 50. Geburtstag gefeiert. Das war am 19. November. Und dann, an Weihnachten, habe ich ihm gesagt, es geht nicht mehr. Beziehungsweise, mein Mann war zu dem Zeitpunkt gerade bei seiner Herkunftsfamilie – und ich habe ihm das alles in einer Email geschrieben. Das war der Anfang vom Ende.

Du hast es ihm geschrieben?

Ja, ich konnte es ihm nicht sagen, ich war zu feige. Und ich glaube, für ihn kam es nicht aus heiterem Himmel. Paare spüren, wann etwas zu Ende ist.

Wann war dein Moment der Klarheit, wann wusstest du, dass du dich trennen willst?

Also, dass ich es will, das wusste ich tatsächlich schon acht Jahre davor. Aber die Klarheit, dass ich es nicht mehr aushalte, das wurde mir erst durch die Arbeit an den „Rauhnächten“ bewusst und durch das eigene innere Hineinhorchen. Ich hatte immer den Glaubenssatz, dass ich es besser machen müsste als meine Eltern in ihrer Ehe. Bis ich kapierte, dass „besser machen“ nicht „aushalten“ heißt, sondern dass besser machen heißt, eine gute Trennung hinzukriegen. Es wäre sicher irgendwie eine zeitlang mit uns noch gut gegangen, ich habe ja nicht gelitten in dem Sinne, dass ich geschlagen wurde, wir haben nicht gestritten, aber wir sind uns aus dem Weg gegangen, wir hatten nichts mehr gemeinsam, außer unser gemeinsames Kind. 

Wie hat dein Mann reagiert? 

Auf die Email erst einmal gar nicht. Aber als er dann wieder Zuhause war, sind wir eine große Runde spazieren gegangen und wir haben darüber gesprochen. Irgendwann schaute er mich dabei ganz ehrlich an und sagte: „Da gibt es, glaube ich, keine Chance mehr für uns.“

Teile dich mit. Sprich darüber. Such dir Hilfe.

Muss man immer erst durch ein tiefes Tal, bevor sich Dinge bessern? Welchen Rat würdest du jemandem geben, der an einem ähnlichen Punkt in seinem Leben steht?

Da gibt es keine pauschalen Antworten. Es hat viel damit zu tun, wie wir gelernt haben, mit Konflikten umzugehen. Ich etwa bin super gut im Beraten von anderen Menschen, und wenn ich mich als externe Beraterin hätte beraten müssen, hätte ich mich schon acht Jahre zuvor in dieses Tal hineingeschickt. Aber ich bin eine einsame Wölfin. Das heißt, ich mache alles mit mir selbst aus, setze eher auf die Strategie der vollendeten Tatsachen, wie ich sie ja schon damals angewendet hatte, als ich meinen Eltern erst von meinem Studium erzählte, als ich den Studienplatz schon hatte. Wenn ich mich aber selbst beraten müsste, würde ich es mir anders empfehlen.

Nämlich?  

Teile dich mit. Sprich darüber. Such dir Hilfe.

Wovon ist abhängig, wie jemand mit solchen Fragen und Ängsten umgeht?

Ich denke, das hat ganz viel mit Vorbild zu tun. Wir – die Babyboomer – entstammen ja einer Generation, die ihre Kindheit in der Kriegs- oder Nachkriegszeit verbracht hat. Unsere Eltern mussten lernen, ihre Probleme mit sich selbst auszumachen. Nach dem Motto: „Was jammerst du?“ „Was hast du jetzt für ein Thema?“ „Sei froh, dass du überhaupt lebst.“ Und das ist das, was auch ich mitbekommen habe.

Das heißt, die Umgang mit Problemen wird quasi vererbt?  

Die Kinder von damals, also diese Generation der Kriegskinder zwischen 1935 bis 1946, die haben alle etwas Ähnliches erlebt. Ein Drittel ist dabei relativ unbekümmert durch den Krieg gekommen, weil sie gut behütet irgendwo leben konnten. Die haben zwar auch Verluste erlebt, aber nicht so dramatisch. Dann gab es ein Drittel, das traumatisiert worden ist, dazu gehört mein Vater, er ist Jahrgang 1940. Dieser Teil hat zwar schlimme Sachen erlebt, das etwa das eigene Haus zerbombt worden ist, aber sie haben überlebt. Und dann gab es noch das Drittel von Kindern, das damals schwerst traumatisiert worden ist, etwa als Opfer von Straftaten. Und je nachdem, zu welchem Drittel die Eltern zählen, hat man deren Bewältigungsstrategien übernommen, die am Ende fast alle nicht wirklich förderlich sind.

Manche flüchten sich vielleicht deswegen auch in eine depressive Stimmung.

Und davor gibt es kein Entkommen?  

Da kommt es darauf an, wie reflektiert man selbst damit umgeht. Also grob gesagt, war die Generation unserer Eltern dazu verdonnert, die Trümmer wegzuräumen. Und wir, also du und ich, wir sind dafür da, unsere seelischen Trümmer wegzuräumen. Und unseren Kindern wieder geben wir mit, wie man damit umgehen kann.

Was aber nicht erklärt, warum ausgerechnet die Lebensmitte für viele Menschen heute so schwierig ist. Oder?

Sagen wir so: Hier geht es um das Besetzen von Freiräumen. Und Freiräume entstehen, wenn Rollen sich verändern. So lange, wie mich etwa mein Sohn gebraucht hat, war keine Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken oder über meine eigene Endlichkeit. Wenn aber die Zeit kommt, in der man beginnt, einige Rollen abzulegen, weil man etwa in Rente geht oder weil die Kinder ausziehen, entsteht plötzlich ein Freiraum, der gefüllt werden will. Manche wissen dann nicht, wie sie ihn füllen können und flüchten sich deswegen vielleicht auch in eine depressive Stimmung. Wohlgemerkt, das ist jetzt sehr plakativ. Mich suchen üblicherweise ja eher Frauen auf, die nicht geschoben werden wollen, sondern denen ich nur ein bisschen Mut machen muss.

Wenn rauskommt, es braucht erst eine Bäm-Entscheidung, dann such dir Hilfe.

Es geht ihnen um einen Richtungswechsel, um eine Korrektur, nicht um die großen lebensentscheidenen Fragen?  

Es geht in der Regel zumindest nicht um komplett neue Lebensentwürfe, häufig sind nur kleine Änderungen vonnöten. Kleine Änderungen, die etwas Großes bewirken. Ich nenne als Beispiel immer gern das Märchen von der Prinzessin, die auf einer kleinen doofen Erbse geschlafen hat; alles tat ihr weh. Dann aber war die Erbse weg und die Prinzessin konnte gut schlafen. Und das heißt im Umkehrschluss: Es müssen nicht immer große Veränderungen sein, sondern man sollte schauen, welche kleinen Veränderungen man hinkriegt, um sagen zu können, ich habe ein erfülltes Leben.

Also Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben. Wie starte ich so etwas  – in zwei, drei Sätzen? 

Schau in den Spiegel, halte den Blick aus – und stelle dir die Frage: Was ist es, was mich glücklich macht? Wenn die Frage Antwort lautet: Ich bin glücklich, dann ist das doch super. Dann wäre die Anschlussfrage: Was kannst du weiterhin tun, um jeden Tag einen tollen Tag zu haben. Wenn aber rauskommt, es braucht erst ein Bäm, eine Bäm-Entscheidung, dann such dir Hilfe.

Ich nenne es die Gänseblümchen des Alltags.

Und so landet man dann irgendwann bei Glücksgefühl 12 auf der Skala eins bis zehn?  

Für mich kann ich sagen: Nach unserer Trennung fing ich wieder an, die kleinen Dinge zu sehen und wertzuschätzen. Und du wirst lachen; jeden Morgen schreibe ich in ein Heft, was ich mir an diesem Tag Gutes für „Beauty und Seele“ tun kann, was ich tagsüber Schönes machen will. Das ist mindestens eine Sache. Egal, ob eine Maniküre oder ein Cappuccino draußen auf der Terrasse. Ich nenne es die Gänseblümchen des Alltags.

Und was hast du dir für heute Schönes vorgenommen?

Ich werde meinen Sohn nachher abholen und wir werden gemeinsam einem süßen Stückchen frönen. Ich freue mich schon diebisch darauf; es sind nur zehn Minuten, aber die Zeit mit ihm ist so kostbar.

Buchtipp:

„Rauhnächte“ – 12 Tage nur für dich.“
Tanja Köhler,
Knesebeck Verlag
144 Seiten
ISBN 978-3957287151

Außerdem von ihr erschienen:
„Vorwärts heißt zurück zu mir –
Aufbruch in ein selbst bestimmtes Leben“
Kösel-Verlag
256 Seiten
ISBN: 978-3466348107

Mehr Infos zu Tanja Köhler hier:

www.die-tanja-koehler.de

Mir geht es tatsächlich gut, ich bin glücklich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht auch schlechte Tage hätte.

Zur Person

Tanja Köhler berät seit über 20 Jahren vor allem mittelständische Familienunternehmen in der Entwicklung der Führungskräfte und Mitarbeiter. Neben ihrer Arbeit als Coach moderiert sie die Radio-Sendung „Sag mal Tanja?!“ auf Antenne 1 Neckarburg. Mit ihrem Sachbuch „Rauhnächte – 12 Tage nur für dich“ landete sie auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Susanne Krauss, 57

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Fotografin

Susanne Krauss, 57

„Ich glaube, es macht großen Sinn, die Leute zu ermutigen, einfach so zu sein wie sie sind“

Im Alltag sind sie es längst: Superheldinnen. Frauen über 70, die von einem Leben zu erzählen wissen, das nicht nur Höhen kennt. Die Fotografin Susanne Krauss aus dem bayerischen Grafing hat sie ins Scheinwerferlicht geholt. Mit leicht ironischem Blick  verschafft sie den Frauen den Respekt und die Anerkennung, die sie für ihre Leistungen verdienen. Ihre „Granniegang“ ist eine liebevolle Hommage an das Alter. Susanne Krauss selbst sagt: „Niemand von uns will unsichtbar sein. Allen Menschen geht es  ja von Geburt an so, dass sie Wertschätzung erfahren wollen oder ein bisschen Anerkennung.“

 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Fotos: Susanne Krauss

Wie bist du auf die Idee zum Granniegang-Projekt gekommen? 

Ich beschäftige mich ja schon lange mit Menschen in allen Lebenslagen. Und irgendwann fiel mir auf, dass Frauen mit zunehmendem Alter, ich sage mal, mit dem Eintritt ins Rentenalter, in der Wahrnehmung der Gesellschaft langsam verschwinden. 2017 entstand dann ein Projekt, bei dem ich Frauen in Superheldinnen-Kostümen aus bereits vorhandenen Fotos in Photoshop zusammenstellte und als Collage präsentierte. Diese Porträts kamen bei älteren Damen so gut an, dass ich mir dachte, da könne man mehr daraus machen. Ich erkundigte mich im Bekanntenkreis bei meiner Mutter und auch bei anderen älteren Frauen, ob sie vielleicht Interesse hätten, sich von mir in Superheldinnenkostümen porträtieren zu lassen. Aber leider konnte ich damals niemanden für dieses Projekt gewinnen. Und dann habe ich das erst einmal so ein bisschen ad acta gelegt.

Wieso wollten sich die Frauen denn nicht fotografieren lassen?

Die einen fanden sich nicht schön genug, andere fühlten sich zu alt, wieder andere sagten: „Ich würde mich seltsam fühlen, wenn ich mich verkleide.“

Und dann?

Probierte ich zunächst mit der KI rum und kombinierte das Ganze nochmals mit Photoshop. Aus Spaß habe ich die Bilder dann später auf meinen Instagram-Account gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich vielleicht 2000 Follower, über Nacht ging der Account dann aber durch die Decke. Ich konnte das erst gar nicht glauben und weiß noch, wie ich zu meinen Töchtern sagte: „Ich glaube, jemand hat meinen Account gehackt.“ Die vielen positiven Reaktionen ermutigten mich, das Ganze dann noch einmal als richtiges Projekt zu etablieren.

Ich bekam damals so zwischen 300 und 400 Nachrichten pro Tag.“

Wie hast du die Frauen gefunden? Wie bist du vorgegangen?

Zunächst einmal ganz blauäugig. Ich startete auf Instagram einen Aufruf und schrieb sinngemäß: „Das hier ist jetzt KI. Wer aber Lust hat, dass wir das im realen Leben umsetzen, der möge sich bitte bei mir melden.“ Ich hatte dabei aber nicht bedacht, dass mir die Frauen ja wirklich international folgen. Da kamen aus Südamerika, aus Nordamerika, aus Italien und sonst woher Anfragen. Aber das konnte ich weder finanziell noch zeitlich leisten. Und so musste ich noch einmal umstrukturieren – und habe das Vorhaben in einen kleinen Contest umgewandelt, bei dem Frauen, egal von woher, quasi die Collage mit ihrem eigenen Foto gewinnen konnten.

Wie waren die Reaktionen?

Ich bekam zum Teil ganze Lebensgeschichten geschickt und auch Dankesbriefe, in denen die Frauen schrieben, die Bilder würden Hoffnung machen und „Ich habe jetzt richtig Lust darauf, alt zu werden.“ Ich bekam damals so zwischen 300 und 400 Nachrichten pro Tag; tatsächlich ging es Tag und Nacht nur noch um dieses eine Thema. Nach diesem kleinen Wettbewerb habe ich dann gesagt, ich würde das Ganze nun gern als richtiges Fotoshooting machen und startete mit der Journalistin Ulla Wohlgeschaffen nochmals einen Aufruf: „Wenn ihr in der Nähe von München wohnt, und Lust auf das Projekt habt, meldet euch bitte.“

Mir war wichtig, dass die Frauen nicht operiert sind, also Schönheitsoperationen hatten.

Nach welchen Kriterien hast du die Frauen ausgesucht?

Die zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten mussten passen, und natürlich auch die Offenheit. Äußerlichkeiten spielten überhaupt keine Rolle, weil bei dem Projekt sollte ja deutlich werden, dass es ganz egal ist, wie schön, wie groß oder klein oder dick oder dünn jemand ist. Wichtig war mir allerdings, dass die Frauen nicht operiert sind, also Schönheitsoperationen hatten oder dass die Frauen nicht schon selbst irgendwie als Influencer arbeiten, die also außerhalb dessen sind, was eine normale Frau in dem Alter lebt. Zum einen, weil ich ein realistisches Spektrum haben wollte und zum anderen wollte ich nicht die noch hypen, die sowieso schon für etwas bewundert werden.

 

Bei dem Projekt sollte deutlich werden, dass es ganz egal ist, wie schön, wie groß oder klein oder dick oder dünn jemand ist.

Fotos: Susanne Krauss

Wie haben die Frauen sich erklärt; warum wollten sie mitmachen? Was waren die Beweggründe?

Es war beispielsweise eine dabei, die erzählte, wie sie es als Kind ganz oft erlebt hatte, dass sie übergriffig fotografiert worden ist. Nicht im sexuellen Sinne, sondern einfach, dass man ihr immer Anweisungen erteilt hatte, wie sie zu sitzen, zu schauen oder zu lachen hat. Das fand sie so schrecklich, dass sie beschloss, sich nie mehr fotografieren zu lassen. Von ihr gibt es tatsächlich keine Bilder im Erwachsenenalter. Sie sagte, „ich möchte es  jetzt doch noch einmal versuchen, bevor ich ganz alt bin.“

Wie lief das Shooting ab? 

Mir war wichtig, dass die Frauen sich alles wünschen durften. Also von den Kostümen bis zum Setting, sie waren keinerlei Zwang unterworfen, auch nicht, sich in irgendeine Pose zu werfen oder einen Gesichtsausdruck anzunehmen, den sie nicht wollen. Ich glaube, es macht großen Sinn, die Leute zu ermutigen, einfach so zu sein, wie sie sind. Wir haben immer viel geredet und versucht herauszufinden, was die Schwerpunkte sind. Bei den Kostümen konnten sie zwischen einer großen Auswahl entscheiden, auch teilweise virtuell, verbunden mit der Frage: Möchtest du lieber eine edle Supergranny sein oder eine Wilde?

Und für was haben sie sich entschieden?

Die Frau etwa, von der ich eben gesprochen hatte, die wollte beispielsweise bunte Haare, sie wollte edel aussehen. Eine andere sagte, sie habe es satt, immer freundlich zu lächeln. Sie möchte ein Bild von sich, wo sie kämpferisch und fast schon aggressiv rüberkommt, weil sie das Gefühl hat, unsichtbar zu sein, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Wenn sie etwa über die Straße geht, dann halten die  Autos nicht. Es gibt wirklich Untersuchungen darüber, dass zum Beispiel Frauen und auch Männer mit grauen Haaren tatsächlich auf der Straße nicht mehr wahrgenommen werden. Aber nicht, weil man sie bewusst übersieht, sondern weil grau eine so unauffällige Farbe ist, dass man damit praktisch aus dem Bewusstsein rutscht. 

Sie sagt, sie fühle sich richtig toll. Dass sie im Alter noch den Mut hatte, ihre Träume zu verwirklichen

Im Ausstellungskatalog findet sich zu den Fotos der Frauen auch jeweils ein kurzer Abriss ihres Lebens. 

Ja, meine meine Mitstreiterin Ulla Wohlgeschaffen hatte die Frauen nochmal extra nach den Shootings interviewt. Und zum Teil wurden dann Schicksale öffentlich, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

Nämlich?

Eine zum Beispiel hatte  ganz klassisch mit ihrem Mann in einem Reihenhäuschen gelebt. Der Mann war beruflich immer viel unterwegs  und sie hatte in der Zwischenzeit den Haushalt und die Kinder besorgt. Als ihr Mann später in Rente ging, wollte sie auch endlich einmal verreisen, ihr Mann aber meinte: „Nee, ich war schon so viel unterwegs, das ist mir zu viel.“ Sie suchte sich dann einen Nebenjob und sparte das Geld. Sie hat dann wirklich noch große Reisen gemacht. Im alten Kinderzimmer hängen bis heute ihre Reisefotos. Immer, wenn ihr danach ist, setzt sie sich in dieses Zimmer und schaut sich ihre Bilder an. Sie sagt, sie fühle sich richtig toll. Dass sie im Alter noch den Mut hatte, ihre Träume zu verwirklichen. Und das finde ich großartig. Davon gibt es viel solcher Geschichten.

Warum ausschließlich Frauen über 70?

Tatsächlich hatte ich Anfragen von Frauen ab den Wechseljahren. Aber für das Projekt war diese Altersgruppe noch nicht passend. Wenn diese Frauen verkleidet sind, sieht man den Unterschied nicht, sie sehen noch zu jung aus. Und ich wollte bewusst das visuell so hinbekommen, dass das auf den ersten Blick passt.

Alle Grannies, die mir begegnet sind, die haben mir sehr viel Mut gemacht.

Wäre solch ein Projekt auch mit Männern denkbar? 

Speziell bei diesem Projekt schloss sich das aus, weil das ja eine Persiflage auf die männlichen Superhelden ist. Aber es stimmt. Diese Generation der so ein bisschen vergessenen Männer hätte ich auch sehr gerne einmal in einem Projekt, weil – wie es oft im Leben ist – die Sensiblen, Zartbesaiteten geraten schneller aus der Gesellschaft als die, die so mit Ellenbogen vorne stehen. Und ich glaube, da gibt es wirklich wunderbare Männer, die eine Plattform kriegen sollten, wo man sie auch noch mal sozusagen ins Scheinwerferlicht rückt. Niemand von uns will unsichtbar sein. Allen Menschen geht es  ja von Geburt an so, dass sie Wertschätzung erfahren wollen oder ein bisschen Anerkennung. Gerade in der heutigen Gesellschaft, wo sich alles so schnell dreht und eben auf Portalen wie Instagram, auf denen Leute sozusagen laut um Aufmerksamkeit schreien, gehen weniger extrovertierte Menschen unter. 

Was ist Bleibendes für dich aus der Arbeit mit den Grannies geblieben?

Alle Grannies, die mir begegnet sind, die haben mir sehr viel Mut gemacht. Da war zum Beispiel eine dabei, sie ist heute 82 und arbeitet immer noch als Coachin und Beraterin. Und wenn ich sie erlebe oder treffe, dann weiß ich, wie ich alt werden möchte. Ich finde ja generell, dass es total Sinn macht, sich viel mit Menschen, die älter sind als man selbst, zu beschäftigen. Weil sie in vielfacher Hinsicht ein Vorbild sein können. Die fürchten andere Dinge, weil sie schon viel erlebt haben – oder schätzen deswegen auch andere Dinge, weil sie ihre Erfahrungen gemacht haben.

Wie möchtest du alt werden?

Natürlich wie alle: Möglichst gesund. Möglichst frei. In einer Demokratie lebend. Und: Glückliche Enkelkinder erleben zu dürfen. Ich habe zwar bisher nur eins. Aber ich muss sagen, das flasht mich total, das habe ich nicht für möglich gehalten. Bei Enkelkindern,  ich habe das neulich mal gelesen, bekommst du praktisch das Glück, das du mit deinen eigenen Kindern erleben durftest, noch mal in Leichtigkeit zurück. Zugleich aber ist ein Leben natürlich von Anfang bis Ende nicht nur  fröhlich, da kommen immer auch blöde Phasen und ich denke, das man in den guten Zeiten dafür Kraft schöpft. Einer meiner Lieblingssätze lautet: Alles geht vorüber. Das Gute. Aber eben auch das Schlechte.

Mehr Informationen:
https://www.susanne-krauss.de

Es gibt wirklich Untersuchungen darüber, dass zum Beispiel Frauen und auch Männer mit grauen Haaren tatsächlich auf der Straße nicht mehr wahrgenommen werden.

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Konrad Schürmert, 62

 

„Das erste Mal ist wirklich das Allerschönste“

Bis vor wenigen Jahren spielte der Sport im Leben von Konrad Schürmert keine Rolle. Inzwischen gehört der 62-Jährigen aus Viersen in Nordrhein-Westfalen zu den besten Triathleten seiner Altersklasse. Ironman, Challenge Roth, Zugspitz Ultratrail, der Sachbearbeiter ist nicht mehr zu stoppen. Kaum zu glauben, dass er mit Anfang 50 noch bei seinen ersten fünf Kilometern aus der Puste kam. Ein Gespräch über Motivation, Anfängerfehler – und eine Art Wunderheilung dank Sport.

Konrad, Du bist relativ spät zum Sport gekommen. Was war der Auslöser?

Mit einer 5,4 Kilometerrunde fing es im Prinzip an. Ich arbeite beim Zoll, und eine Kollegin hatte 2015 eine Betriebssportgruppe fürs Walken zusammengetrommelt. Nach ein paar Wochen aber merkte ich, dass das mit den Stöcken nichts für mich ist. Ich versuchte dann stattdessen, zu laufen. Am Anfang konnte ich keine 50 Meter am Stück zurücklegen. Trotzdem bin ich dran geblieben. Aber es war ein schwerer Kampf, weil immer im Kopf die Gedanken waren: das ist viel zu anstrengend, du hast dich doch fürs Walken angemeldet, was soll das überhaupt. Nach ein paar Monaten schaffte ich es dann, die fünf Kilometer durchzulaufen. Irgendwann waren es dann zehn Kilometer, und so ging es immer weiter. 2017 kam der erste Halbmarathon in Mönchengladbach. Ein Jahr später der erste Marathon, ebenfalls in Mönchengladbach. Da bin ich unter vier Stunden ins Ziel gekommen.

Hat dich jemand trainiert?

Nein. Das habe ich mir alles selbst erarbeitet. Wenn ich Probleme hatte mit dem Knie oder mit dem Rücken oder so, dann bin ich zum Orthopäden. Der erklärte mir die Zusammenhänge der ganzen Muskulatur und Sehnen. Mit Massagen und Physio gingen die Schmerzen dann weg. Inzwischen mache ich dreimal die Woche 20 Minuten Yoga. Das hilft gut. Und wenn es hier und da mal zwickt, weiß ich mittlerweile, dass ich mich wahrscheinlich zu wenig gedehnt habe.

Von vier Kilometern bis zum Triathlon ist es ein weiter Weg. Wie viel Triathlons sind es denn inzwischen?

2018 habe ich meinen ersten gemacht, Volkstriathlon in Willich: 500 Meter Schwimmen, 20 Kilometer Radfahren, fünf Kilometer Laufen. Ein Jahr später folgten drei Wettbewerbe über die olympische Distanz: 1,5 Kilometer Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und zehn Kilometer. Meine erste Langdistanz war bei der Weltmeisterschaft in Almere.

Langdistanz heißt? 

Das heißt: 3,8 Kilometer schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und dann 42 Kilometer laufen.

Manche versuchen ja ihr Leben lang, einen Pokal vom Ironman nach Hause zu schleppen und ich bring den direkt gleich mit. 

Wow. Was ist das für ein Gefühl, im Ziel anzukommen?

Das ist herrlich. Und da ist es auch egal, ob man eine bestimmte Zeit schaffen möchte oder ob man einfach nur ankommen will. Oder ob es ein Marathon ist oder eine Langdistanz. Das erste Mal ist vom Gefühl her wirklich das Allerschönste. Da hat man auch die größten Emotionen. Da konnte auch ich meine Tränen nicht zurückhalten.

Tränen vor Erschöpfung oder vor Freude?

Freudentränen. Weil, man weiß ja auch, dass es eine wirklich unglaubliche Leistung ist. Es scheitern ja so viele daran, die Distanz überhaupt zu bewältigen. Sei es jetzt in der Vorbereitung – oder noch während des Rennens. In Duisburg habe ich bei der Halbdistanz für den Ironman gleich den zweiten Platz in meiner Altersklasse belegt. Und in Hamburg habe ich den dritten Platz gemacht. Da ist man schon stolz. Manche versuchen ja ihr Leben lang, einen Pokal vom Ironman nach Hause zu schleppen – und ich bring den direkt gleich mit. 

Was motiviert dich zu solchen Herausforderungen? Was treibt dich an? 

Mein vorrangiges Ziel ist eigentlich immer: Ich möchte ankommen und Spaß haben. Das ist bei der Langdistanz zwar nicht immer möglich, da hat man auch mal bei Schmerzen zwischendurch. Aber wenn die Familie dabei ist und die Zuschauer richtig Stimmung machen, das ist dann schon echt toll. Das reicht mir dann eigentlich schon. Und von der Kondition her bin ich eigentlich gar nicht so schlecht dabei. Ich habe ja ein gewisses Alter und weiß auch, dass der altersbedingte Leistungsabfall zwangsläufig irgendwann mal kommt.

Also wirklich geglaubt, dass ich das alles schaffe, das hat am Anfang eigentlich nur meine Familie.

Hast du den Eindruck, dass die Kraft nachlässt?

Nö, bis jetzt nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich erst so spät angefangen habe mit dem Sport.

Wie reagieren die Jungen auf dich? 

Durchweg positiv. Man bekommt viel Lob und Staunen. Einige nehmen mich auch als Vorbild oder sagen: „Super, ich wäre froh, wenn ich in deinem Alter auch diese Leistung bringen würde.“

Und was sagen die Gleichaltrigen?

Die sagen: „Du bist wahnsinnig, du bist bekloppt, hör‘ auf damit.“ Als ich erzählt hatte, dass ich mal Triathlon ausprobieren möchte, da wollte mir auch erst einmal keiner glauben. Also wirklich geglaubt, dass ich das alles schaffe, das hat am Anfang eigentlich nur meine Familie.

Ich hatte zum Beispiel Rücken- und Knieprobleme und dachte immer, ich kann gar keinen Sport machen, weil es dann ja alles noch viel schlimmer wird. Im Grunde genommen aber passierte genau das Gegenteil.“

Wie hat sich dein Leben durch den Sport verändert?

Ich fühle mich heute wesentlich besser als vorher. Ich hatte zum Beispiel Rücken- und Knieprobleme und dachte immer, ich kann gar keinen Sport machen, weil es dann ja alles noch viel schlimmer wird. Im Grunde genommen aber passierte genau das Gegenteil. Dadurch, dass ich angefangen habe mit Sport, wurden die Schmerzen im Knie oder im Rücken immer weniger und dann waren sie irgendwann gar nicht mehr da. Ich war früher auch immer total müde und kaputt und musste mich von der Arbeit ausruhen, um am nächsten Morgen wieder arbeiten gehen zu können. Das ist vorbei. Das hätte ich nie für möglich gehalten.

Und jetzt? Fühlst du dich wie 30?

Ich weiß nicht, wie ich mich mit 30 gefühlt habe. Aber ich fühl‘ mich auf jeden Fall super fit. Früher war es ja so, da ist man mit  60, 65  in Rente oder Pension gegangen und paar Jahre später war man tot, das Rentenalter war quasi schon fast das Lebensende. Ich weiß auch, welche Gebrechen manche in meinem Alter haben. Das ist zum Teil schon heftig.

Wenn ich dann länger los möchte, mach‘ ich das meistens abends. Oder nachts. Dann laufe ich um 4 Uhr los und bin zum Frühstück wieder zu Hause.

Wie hat sich dein Körper verändert in der Zeit?

Also, ich wiege jetzt 74 Kilogramm, früher waren es um die 80. Ich will aber auch nicht zu wenig wiegen. Und das ist auch der Grund, warum ich mich nach einer langen Distanz wiege. Dann weiß ich, jetzt musst du wieder eine ganze Woche kräftig reinhauen, damit du wieder auf deine 74 Kilo kommst.

Reinhauen heißt: Viele Nudeln und ein paar Biere?

Bier ja, dann aber alkoholfrei. Und ansonsten esse ich halt alles, was meine Frau kocht. Heute gab es etwa Bratkartoffeln mit Erbsen, dazu ein Stück Fleisch. Normale Küche.

Das klingt jetzt nicht eben nach einer speziellen Ernährung für einen Supersportler.

Also ich achte jetzt nicht auf irgendwelche Kalorien oder so. Ich habe auch kein Problem, mal Pommes zu essen und da nicht mit der Mayonnaise oder mit dem Ketchup zu sparen. Aber wir essen schon viel Obst, Gemüse, Salat und wenig Fleisch.  

Wie trainierst du? 

Das kommt darauf an. Manchmal laufe ich mittags kurz eine Runde, vielleicht so fünf oder sieben Kilometer. Wenn ich dann länger los möchte, mach‘ ich das meistens abends. Oder nachts. Dann laufe ich um 4 Uhr los und bin zum Frühstück wieder zu Hause. Das Schwimmen dagegen ist geplant. Jeden Montag kraule ich meine zweieinhalb Kilometer. Manchmal noch ein zweites Mal in der Woche, dann donnerstags. Und im Keller habe ich einen asbach uralten Ergometer stehen. Das setze ich mich dann dreimal die Woche drauf für eine Stunde Intervalltraining. Und am Wochenende fahre ich eine längere Tour, so zwei Stunden mit dem Rennrad.

Du  läufst nachts? Warum? 

Ich weiß nicht, ich mache das ganz gerne. Am allerschönsten ist es aber natürlich, wenn man morgens früh ins Helle hineinläuft und die Natur erwacht. Überall zwitschert es, das ist herrlich. Mir ist auch das Wetter egal. Vielen ist es oft zu kalt, zu nass, zu windig, zu heiß. Und ich sage mir immer, wenn ich danach gehe, dann komme ich zu gar nichts.

Ich mach das alles so aus dem Bauch heraus, und vielleicht kommt der Erfolg dann automatisch, wenn man das so macht wie ich.

Was rätst du Anfängern? Wie bleibt man bei der Stange? Welche Fehler sollte man vermeiden?

Ich erzähle immer meine Geschichte vom Walken. Das war ja kein Quatsch. Ich konnte wirklich keine 50 Meter laufen. Die Distanz ist anfangs erst einmal total egal. Erst einmal nur kurze Stücke laufen und dazwischen ein Stück gehen. Und wenn man das dann immer wieder macht und Spaß am Laufen hat, dann kann man die Wege strecken.

Also nicht mit Ziel loslaufen, sondern es eher entspannt angehen? 

Man kann ruhig ein Ziel haben, etwa, die fünf Kilometer zu laufen. So hat es bei mir im Grunde ja auch angefangen. Aber ich glaube, wenn ich mich damals gezwungen hätte, die fünf Kilometer direkt in einem Rutsch durchzulaufen, dann wäre ich danach so kaputt gewesen, dass ich fürs nächste Mal keine Lust mehr gehabt hätte. Ich selbst habe noch nie so viel trainiert, dass ich mich im Anschluss schlecht gefühlt habe. Ich mach das alles so aus dem Bauch heraus, und vielleicht kommt der Erfolg dann automatisch, wenn man das so macht wie ich.

Das klingt alles extrem entspannt. Ist das die Weisheit des Alters? 

Ich glaube eher, es ist eine Typenfrage. Und welche Ambitionen man hat. Ich sehe das ja bei anderen. Die meisten bereiten sich speziell auf diesen einen Tag vor, die trainieren ein Dreivierteljahr auf Teufel komm raus. Ich könnte das nicht. Ich denk‘ dann immer: Ja, und was passiert danach? Das wäre für mich alles zu streng oder zu verpflichtend. Das würde mir den Spaß nehmen. Wenn ich zum Beispiel laufe, dann gucke ich auch mal links und rechts, und wenn ich dann ein schönes Blümchen sehe, dann mache ich auch mal ein Foto. Wenn ich nach festen Regeln laufen würde, dann müsste ich an all dem Vorbeilaufen. Das wäre nichts für mich.

Früher habe ich mehr  unter die Dusche gestanden als ich im Wasser geschwommen bin.

Was ist das Schwierigste beim Wettkampf? Das Mentale oder das Körperliche?

Das Mentale. Man merkt schnell, wenn der Kopf nicht mitspielt, dann nützt alles andere gar nichts. Da kann man so fit sein wie man will, das funktioniert dann einfach nicht.

Welche von den Sportarten ist dir am liebsten? Schwimmen, Radfahren oder das Laufen? 

Wenn ich das einstufen müsste, würde ich sagen: Fahrradfahren und Laufen. Schwimmen ist irgendwie immer so ein bisschen zäh. Viele nennen das auch „Kacheln zählen“, man zieht stupide eine Bahn nach der anderen. Mir macht das prinzipiell nichts aus. Aber ich muss mich, wenn ich im Wasser bin, auch dringend bewegen, sonst ist mir das alles zu kalt. Früher habe ich mehr unter die Dusche gestanden als ich im Wasser geschwommen bin.

Wo siehst du dich in zehn Jahren?

Wenn ich fit und gesund bleibe, mache ich weiter Sport. Und dann werde ich vielleicht einsam in meiner Altersklasse Triathlon machen.

Auf was freust du dich dieses Jahr?

Besonders auf den Ironman in Hamburg. Im Anschluss werde ich in Garmisch beim Zugspitz Ultratrail an den Start gehen. Für den Berlin-Marathon habe ich auch einen Startplatz bekommen. Und mit meiner Tochter werde ich beim Ironman 70.3 Duisburg an den Start gehen. Das wird ihr erstes Mal Triathlondistanz.

Wahnsinn. Ich wünsche dir und euch viel Erfolg

Nicole Kraß, 53

Nicole Kraß, 53

Journalistin

Nicole Kraß (53)

 

„Ich bin der MS dankbar. Ohne sie würde ich das alles nicht machen“

Die Journalistin Nicole Kraß war 46 Jahre alt, als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Von einem Tag zum anderen stand ihr Leben Kopf. Das Tauchen half ihr, neues Selbstvertrauen zu finden. Sie gründete „Tauchen mit Handicap“, eine Plattform, auf der sie über ihre Erfahrungen bloggt – und auf der sie Informationen zum Tauchen für Menschen mit Behinderungen bündelt. Im Interview spricht sie über ihre Ängste und Träume  – und wie die MS ihre Perspektive auf das Leben veränderte.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Kannst du dich an den Tag der Diagnose erinnern?

Oh ja, natürlich. Diesen Tag vergisst man nie. Ich hatte zuvor eigentlich eine relativ unspektakuläre Knieoperation. Mein Knie war über Monate hinweg dick gewesen und keiner wusste genau, warum. Dann wurde da einfach mal reingeschaut mithilfe einer Arthroskopie. Als ich dann aber wieder erwachte  aus der Narkose, kribbelten meine Arme, so, als wären sie eingeschlafen. Zuerst dachte ich, das wäre von der Narkose. Das ist dann aber irgendwie nicht weggegangen.

Und dann?

Wurde erst ein Karpaltunnelsyndrom vermutet. Ich sollte das vom Neurologen abklären lassen, und bis der Termin dann endlich ran war, hatte ich bereits ganz andere Symptome. Plötzlich schlief mir der ganze Arm ein, und ständig liefen mir kalte Schauer über den Rücken, so, als würde ich mich vor etwas gruseln. Und bei einem Spaziergang durchzuckte es plötzlich meinen ganzen Körper, es fühlte sich an wie ein Stromschlag. Das ist danach dann auch mehrfach passiert, immer, wenn ich etwa den Kopf ein bisschen nach unten senkte, ob beim Essen oder beim Schuhebinden. Das war schon sehr beängstigend. Karpaltunnel konnte der Neurologe schnell ausschließen. Aber dann stand der Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule im Raum. Ich sollte ins MRT und dann zum Neurochirurgen.

Wie ging es weiter?

Mit dem MRT-Ergebnis bin ich zum Neurochirurgen. Und der schickte mich sehr schnell wieder zurück zum Neurologen. Der hatte nämlich Flecken in der Halswirbelsäule gesehen, die da eigentlich nicht hingehören. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. MRT vom Kopf und Lumbalpunktion. Und am Tag des Kopf-MRT bin ich dann auch mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens aufgewacht. Da war mir schon klar, irgendetwas stimmt nicht. Und auf dem Rückweg vom MRT rief mich, ich saß noch im Auto, ein sehr besorgter Radiologe an. Der sagte, sie müssen ins Krankenhaus. Sie haben eine akute Hirnentzündung und brauchen Kortison.

Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus. Das muss ja ein Vermögen kosten.

Wie hast du reagiert in diesem Augenblick?

Irgendwie habe ich funktioniert. Ich habe einfach das getan, wovon ich dachte, das muss ich jetzt tun, da sind auch noch keine Tränen geflossen. Ich hatte fünf Minuten Zeit, um mit Freunden zu telefonieren und zu klären, ob meine beiden Kinder bei ihnen übernachten können. Mein Mann war zu der Zeit viel im Ausland unterwegs. Den konnte ich nicht einmal erreichen, da er im Flieger auf der Rückreise von Asien war. Drei oder vier Tage später kam dann die finale Diagnose. Das war im Mai 2017. Und ein ganz anderes Leben für mich begann.

Wie geht man um mit solch einer Diagnose?

Also im Krankenhaus selbst war das alles noch gar nicht wirklich greifbar. Ich bewegte mich da in irgendeinem seltsamen Schwebezustand, ich wollte das alles gar nicht wahrhaben. Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus; das muss ja ein Vermögen kosten.

War dir MS damals schon ein Begriff?

MS war mir da schon ein Begriff, weil ich es aus dem Bekanntenkreis kannte. Aber für mich war das zunächst natürlich ein Schlag ins Gesicht. Zwar kann man die Symptome heute  besser behandeln und man schaut, dass die Krankheit nicht so schnell fortschreitet. Trotzdem ist es eine Krankheit, die auch im Hintergrund aktiv ist. Ich bin die erste Zeit wie auf Watte gelaufen. Und zwar im wahrsten Sinne, weil sich die Symptome durch meinen ganzen Körper zogen. Ich lief ganz wackelig und es fühlte sich an, als würde ich den Boden gar nicht mehr so richtig berühren. Und da es sich nicht besserte, bekam ich wieder sehr viel Cortison; 2000 Milligramm Cortison pro Tag im Körper sind wirklich eine Hausnummer. Ich hatte Angst, dass da bald der Rollstuhl steht. Und ich fragte mich: Wie soll es jetzt weitergehen? Auch mit den Kindern? Die sind ja zu dem Zeitpunkt auch noch so klein gewesen.

Wie alt warst du damals?

46 Jahre. Was auch schon außergewöhnlich war, denn man sagt, MS tritt so zwischen 20 und 40 auf. Aber da hatte sich die MS bei mir gleich schon von ihrer gemeinen Seite gezeigt. Die Krankheit hat 1000 Gesichter und du weißt nie, was kommt.

Der Arzt sagt: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.

Was ist für dich heute ein guter Tag und was ein schlechter?

Ein guter Tag ist, wenn ich nicht daran denke. Wenn ich unbeschwert fröhlich meine Dinge tun kann. Und ein schlechter Tag ist, wenn ich aufwache und irgendetwas nicht stimmt. Wenn ich plötzlich einen Schwindel habe. Wenn wieder etwas Neues dazukommt und ich nicht weiß, ist es jetzt die MS oder ist es etwas anderes. Immer schwingt die Sorge mit, die MS könnte weiter voranschreiten.

Wie hat die Krankheit die Perspektive auf dein Leben verändert? Oder: Hat sie es überhaupt?

Für mich war sie tatsächlich auch eine Initialzündung. Ich hatte zwar schon 1995 meinen Tauchschein gemacht, war damals hier und da tauchen, sogar im Great Barrier Reef, noch vor der ersten großen Korallenbleiche. Aber dann kam irgendwie das Leben dazwischen. Studium. Wir haben Kinder bekommen. Ein Haus gebaut. Das Tauchen ist immer weiter in den Hintergrund gerückt. 2017 wollte ich damit eigentlich wieder anfangen. Der Plan war gewesen, mit einer Freundin nach Bali zu fliegen. Aber dann kam die Diagnose, und als ich beim Arzt saß – und der aufzählte, was alles in nächster Zeit auf mich zurollen würde, erzählte ich ihm von meinen Plänen – und er sagte etwas, was ich nie vergessen werde: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.

Eine Art Trotzreaktion, im positiven Sinn?

Ich habe einfach gemerkt, ich brauche das Tauchen für mich. Es ist für mich die allerbeste Therapie. Beim Tauchen sind alle Gedanken weg und auch die Ängste und die Einschränkungen. Irgendwie geht es mir unter Wasser viel besser, da fühle ich mich freier, und deswegen baue ich das jetzt auch immer mehr aus – solange es noch geht.

Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen!

Was findest du beim Tauchen?

Also mal abgesehen davon, dass es natürlich schön ist, die Unterwasserwelt zu sehen. Aber selbst, wenn ich hier im Verein beim Tauchen bin, genieße ich dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, das gibt es sonst nur im All oder im freien Fall. Es ist so herrlich. Man macht eine kleine Bewegung und gleitet ganz leicht und frei durchs Wasser. Ein tolles Gefühl.

Die MS steht dem nicht im Weg?

MS an sich ist keine Kontraindikation, sprich, man kann auch mit MS tauchen. Nicht im akuten Schub, das ist ein NoGo.

Will man vielleicht auch nicht?

Genau. Will man nicht. Und sollte man nicht. Das wäre gefährlich nicht nur für einen selbst, sondern auch für den Partner, mit dem man taucht. Aber auch Betroffene, die nicht laufen können oder andere Einschränkungen oder Spastiken haben, denen tut es eher gut, unter Wasser zu sein, denn unter Wasser ist man einfach leichter und der Wasserdruck sorgt tatsächlich auch dafür, dass zum Beispiel Spastiken ein bisschen mehr ausgeglichen sind.

Später hast Du dann Tauchen mit Handicap gegründet – was war der Auslöser?

Ich hatte mich 2018 für eine Tauchsafari auf dem Roten Meer angemeldet, und am Flughafen sah ich auf dem Weg dorthin eine andere Gruppe von Leuten mit Tauchgepäck, unter ihnen einen Mann im Rollstuhl. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Äh, wieso will der denn in den Tauchurlaub, wie will der denn tauchen? Diesen Mann habe ich später auf einem anderen Boot wieder gesehen und beobachtet, wie er sich für einen Tauchgang fertig machte und ins Beiboot hievte. In dem Moment wurde mir klar: Was der kann, das kann ich auch, selbst, wenn ich durch meine MS-Erkrankung nicht mehr laufen kann. Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen! Nach der Reise habe ich dann nach Infos über das Tauchen mit Behinderung gesucht. Ich habe recherchiert und schnell festgestellt, dass es wenig dazu gibt. Und da kam dann die Idee mit dem Blog, und so kam der Stein ins Rollen. Das Ganze ist dann immer mehr gewachsen. Inzwischen füttere ich regelmäßig meinen Blog und bin in unserem Tauchclub zuständig für das Tauchen mit Handicap.

Mit was für Behinderungen kommen die Menschen zu euch?

Wir hatten einen Rollifahrer mit Spina Bifida. Er konnte als Kind zwar noch laufen, verlor aber nach und nach immer mehr das Gefühl in den Beinen. Und wir hatten einen anderen Rollifahrer mit Querschnitt nach einem Unfall, außerdem andere MS-Erkrankte. Dann hatten wir eine Frau mit Dystonie zum Schnuppertauchen. Dystonie ist auch so eine gemeine Krankheit, die zu starken Muskelverkrampfungen führen kann. Mit ihr waren wir erst einmal nur im warmen flachen Wasser, um zu sehen, ob und wie sie sich unter Wasser fortbewegen kann. Und wir sind mit einem Doppelunterschenkelamputierten getaucht. Der war so begeistert, dass er gleich seinen Tauchschein machte, auch den für fortgeschrittene Taucher.

Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt.

Hast du eigentlich den Mann mit dem Rollstuhl irgendwie mal sprechen können? Er war ja im Prinzip derjenige, der dich inspirierte?

Nein, dazu gab es keine Gelegenheit. Und ich hatte ja bei der ersten Begegnung am Flughafen auch selbst diese sonderbaren Gedanken. Aber jetzt bin ich diejenige, die sagt: Natürlich kannst du tauchen, auch wenn du im Rollstuhl sitzt, und natürlich kannst du tauchen, auch wenn du blind bist. Denn man taucht ja nicht unbedingt nur, um schöne bunte Fische zu sehen. Da gibt es ganz viele andere Beweggründe, etwa dieses wunderbare Schweben im Wasser. Tauchen, das ist so etwas Inklusives und Wunderbares. Ich will jetzt einfach die Vorurteile aus den Köpfen der Menschen herausbekommen, so, wie ich sie auch hatte.

Also Verständnis vermitteln?

Ich sehe mich tatsächlich in einer Art Mittlerrolle. Und ich bekomme inzwischen wirklich viele solcher Anfragen. Eine junge Frau mit einem gelähmten Arm etwa wollte wissen, ob sie auch tauchen könne und worauf sie achten müsse. Ich weiß heute: Es gibt immer für alles Lösungen, es braucht oft nur ein bisschen Kreativität. Und vielleicht etwas mehr Zeit und Einfühlungsvermögen. Mir ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es die Möglichkeit überhaupt gibt, mit einer Behinderung zu tauchen. Deswegen habe ich letztes Jahr auch meinen Divemaster gemacht, das ist quasi die erste professionelle Stufe, um später selbst Taucher ausbilden zu können. Ich habe es Divemaster 50plus genannt, weil, ich war da ja schon über 50. Das Schöne am Tauchen ist, dass das Alter überhaupt keine Rolle spielt. Tauchen kann man nämlich auch mit 80 noch lernen – eine gewisse Fitness vorausgesetzt.

Zurück zur MS. Was bedeutet dir die Krankheit?

Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt. Und tatsächlich bin ich der MS irgendwie dankbar, dass sie in mein Leben gekommen ist. Das mag blöd klingen. Aber sie hat mich eingebremst in meinem Leben und in dem Denken, dass alles selbstverständlich ist. Ohne die MS würde ich das alles heute nicht machen. Und genau das möchte ich weitergeben. Anderen Mut machen, selbst auszuprobieren, ob das Tauchen ihnen auch guttun könnte. Mir persönlich gibt das alles so viel. Mit den Menschen zu reden, ihr Dankeschön, wenn wir uns hinterher in die Arme fallen. Das hätte ich alles tatsächlich ohne diese Erkrankung wahrscheinlich so nicht erlebt. Paradox, oder?

Eben nicht. Natürlich kann man sich ins stille Kämmerlein zurückziehen, das ist die eine Option. Oder aber man wählt den Weg von dem Mann im Rollstuhl.

Genau. Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache. Ich sage immer: Wenn ich das geschafft habe, dann schaffst du das auch.

Mehr Infos unter:
www.tauchen-mit-handicap.de 

Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache.