Brigitte Huber, 60

Brigitte Huber, 60

Journalistin

Brigitte Huber (60)

 

Brigitte Huber im Studio, mit offenem Blick und leichtem Lächeln – sie spricht im Interview über neue Perspektiven nach dem Berufsleben.

Foto: Andreas Sibler

„60 – das ist eine Zäsur, eine 
Unverschämtheit“

Brigitte Huber war fast zwei Jahrzehnte in leitender Position bei der Brigitte, viele Jahre davon als Chefredakteurin. Sie prägte das Magazin in einer Zeit großer Umbrüche. Dann, mit 60, entschied sie sich für einen kompletten Neustart. Sie verließ den Verlag und absolvierte eine Coaching-Ausbildung. Im Interview mit NextChapterNow spricht sie über den Mut, noch einmal neu anzufangen, über die Angst vor einem unverplanten Dienstagmorgen – und das Älterwerden.

🎧 Die Essenz des Interviews – als Audio-Zusammenfassung:
https://on.soundcloud.com/FZ4dXK9mRcZ9A82P6

Brigitte Huber berichtet im Interview über berufliche Veränderung mit 60.

Foto: Gaby Gerster

Liebe Frau Huber, Sie waren viele Jahre Chefredakteurin der Brigitte. Im Oktober 2023 gaben Sie diese Position auf, um sich neuen Herausforderungen zu widmen. Was war der Auslöser für diese Entscheidung?

Es gab nicht den einen Moment, in dem ich dachte: Jetzt ist Zeit für etwas Neues. Das war ein Prozess, kein dramatischer Bruch, sondern ein langsames Loslassen – wie das Ende einer langen Beziehung. Ich habe einmal von einer Therapeutin gehört, dass Frauen oft schon innerlich abgeschlossen haben, wenn sie aus einer Beziehung herausgehen. So ähnlich war es bei mir.

War das eine persönliche Entscheidung?

Das war schon meine Entscheidung. Eigentlich war ich mir immer sicher, dass ich so lange bleibe, wie es geht – ich hatte durchaus auch Lust auf Transformation. Nur: Mit jeder Umstrukturierung, jeder Portfolioüberprüfung, jeder Trennung von großartigen Kolleginnen änderten sich die Dinge ein Stück.
Irgendwann wusste ich: Ich will nicht noch einmal das Gleiche durchmachen.
Von den zehn Magazinen, für die ich einmal verantwortlich war, blieb am Ende nur noch eines. Da habe ich gespürt: Vielleicht ist es gut, wenn jemand mit frischem Blick an die Marke herangeht.
Und der Abschied von den anderen Magazinen, die ich ja selbst mitentwickelt hatte, war für mich auch ein innerer Schnitt. Ich habe für mich gesagt: Das war die Vergangenheit – jetzt will ich mich auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren.

Gab es Zweifel, ein inneres Ringen?

Natürlich gab es auch die Angst: Werde ich wieder etwas finden, das mich so erfüllt wie das, was ich gerade aufgebe?
Zugleich war mir war immer klar: Das ist zwar ein toller, privilegierter Job – aber es ist nicht mein ganzes Leben, es kann noch mal etwas Neues kommen.
Meine größte Sorge war: Wie geht es mir, wenn ich mein Team nicht mehr um mich habe? Wenn diese klaren Strukturen fehlen, dieser geregelte Alltag.
Ich wusste, ich kann das – ich habe jahrelang als freie Journalistin gearbeitet, habe auch mit Ende 20 schon Bücher geschrieben, ich bin diszipliniert.
Aber ich hatte Respekt davor, wie es sich anfühlt ohne Resonanzfeld, ohne Rückkopplung.

Ich habe mir vorgenommen, endlich ein stabileres Leben aufzubauen, Neues auszuprobieren.

Und natürlich passieren dann auch Dinge: Man verschwindet plötzlich von Gästelisten, auf die man früher automatisch gesetzt war.
Das hatte ich oft gehört – und genauso kam es dann auch. Aber das hat mich nicht wirklich getroffen, eher im Gegenteil: Weniger Verpflichtungen, weniger Termine. Was ich viel eher gespürt habe, war so ein Bauchziehen – und da dachte ich: Genau da liegt das Neue. Das hat mich neugierig gemacht. Ich bin mit 19 Mutter geworden – ich habe keine Hobbys.
Jetzt aber habe mir vorgenommen, endlich ein stabileres Leben neben dem Job aufzubauen, Neues auszuprobieren.

Wie war das, plötzlich ohne diesen Job – ohne das gewohnte Umfeld?

Das war lustig, weil die Leute mich ständig fragten: „Was machst du denn jetzt?“ Und ich habe dann erzählt, dass ich erstmal eine große Reise mache, neun Wochen lang.
Aber das meinten sie gar nicht. Sie wollten wissen, was danach kommt. Und da habe ich gesagt: Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nur, was ich nicht machen werde: Ich werde kein Coach, und ich werde kein Buch schreiben.

Ich nehme mir heute den Raum, Dinge auszuprobieren.

Ein Jahr später hatte ich eine Coaching-Ausbildung absolviert. Dabei hatte ich immer gedacht, ich hätte in meinem Leben genug Jobprobleme gelöst – das brauche ich nicht mehr. Aber dann merkte ich: Das Thema, das mich in all den Jahren am meisten interessiert hat, ist letztlich Psychologie. Ich denke: Wenn ich nicht Journalistin geworden wäre, hätte ich vermutlich Psychologie studiert. Also beschloss ich nach dem Urlaub, eine Coaching-Ausbildung in Transaktionsanalyse zu machen – einer Methode, die hilft, Gespräche und Verhalten besser zu verstehen.
Anfangs wollte ich eigentlich nur selbst zu einem Coach gehen – einfach, um mich ein bisschen zu sortieren. Aber dann fand ich Gefallen daran. Ich habe richtig Feuer gefangen.

Man hat am Anfang vielleicht eine Idee, wie es weitergehen könnte – aber vieles klärt sich erst im Tun.

Und gerade arbeite ich an einem Buch. Da war es ähnlich. Ich habe wohl diesen Abschnitt gebraucht, um zu merken: Themen zu finden und darüber zu schreiben – das ist genau das, was mich auch damals zum Journalismus gebracht hat. Ich bin neugierig, ich will verstehen, wie Dinge zusammenhängen, was Menschen antreibt.
Unser Paartherapeut bei der Brigitte, Oskar Holzberg, hatte mir zum Abschied ein Zitat von Joseph Campbell geschrieben:
„Wenn der Weg vor dir klar und deutlich ist, so ist es vermutlich der Weg eines anderen.“
Damals dachte ich: Oskar, wie meinst du das?
Aber allmählich begreife ich. Man hat am Anfang vielleicht eine Idee, wie es weitergehen könnte – aber vieles klärt sich erst im Tun.
Ich nehme mir heute den Raum, Dinge auszuprobieren – und auch wieder sein zu lassen, wenn sie es nicht die richtigen sind.

Studioaufnahme von Brigitte Huber – im Interview spricht sie über Unsicherheiten und Chancen beim Neuanfang.

Foto: Ben Kern

Sie klingen voller Elan und wirken zufrieden.

Das hätte ich anfangs auch nicht gedacht. Ich hatte zum Beispiel immer Angst vor Dienstag, 11 Uhr. Montag geht noch – Sport, Zahnarzt, irgendwas findet sich. Aber Dienstag? Da sind alle aus dem Haus, man hat gefrühstückt, vielleicht eine Runde gedreht – und dann?
Ich hatte von diesen Ängsten damals meinem Lebensgefährten erzählt. Und jetzt sagt er montags manchmal: „Bis morgen, 11 Uhr, Kaffee?“ Und ich brauche immer einen Moment, um zu merken: Ah – Dienstag, 11 Uhr! Aber fast immer ist etwas los. Langweilig ist mir nie. Aber ich gehe jetzt auch nicht mit einem fertigen Plan raus – und setzte den dann brav um. Im Gegenteil.
Vieles, von dem ich dachte, es könnte mein Weg sein, interessiert mich heute nicht mehr.

Worum geht es in Ihrem Buch?

Ein Thema ganz nah an NextChapterNow – nur etwa zehn Jahre später. Es geht ums das 60-Werden.
Ich bin letztes Jahr 60 geworden, und das hat mich stark beschäftigt. Ich sage immer: 60 ist eine Zäsur. Eine Unverschämtheit – aber auch ein Aufbruch. Wir sind eine Generation, die ein neues Terrain betritt. Wenn jemand zu mir sagt: „Hörst du jetzt auf zu arbeiten?“, denke ich nur: Wie bitte? Ich habe doch gerade gefühlt erst angefangen.

Wir sind eine Generation, die ein neues Terrain betritt.

Auf Geburtstagsfeiern, bei Kolleginnen in meinem Alter, kommt häufig die Frage: Und was machst du jetzt? Die große Reise, ein Herzensprojekt – ja. Aber was kommt danach? Diese Frage hat mich nicht mehr losgelassen. Und weil ich nicht allein schreiben wollte, habe ich eine befreundete Journalistin überredet, mitzumachen.
Wir haben ein Konzept geschrieben, einen Verlag gefunden – und im Oktober erscheint unser Buch bei S. Fischer.

Studioaufnahme von Brigitte Huber, vor einer Sitzgruppe – sie spricht im Interview über Entscheidungsprozesse und neue Rollenbilder.

Foto: Ben Kern

Was erwartet den Leser?

 Es soll ein unterhaltsamer, aber fundierter Ratgeber werden. Persönlich erzählt, mit Anekdoten aus unserem Leben, aber wissenschaftlich recherchiert.
Wir haben Fragebögen entwickelt und sprechen mit Frauen – Role Models und aus dem Bekanntenkreis. Uns interessierte: Welche Pläne habt ihr? Was macht euch stark – oder was glaubt ihr, was es euch stark macht? Gibt es Dinge, die ihr noch über Bord werfen möchtet? Und so weiter.
Das Buch soll Orientierung bieten – aber ohne Anspruch auf eine allgemeingültige Wahrheit.
Und es geht um Premieren. Wie holen wir Erlebnisse gezielt in unser Leben zurück?
Zu Beginn unseres Lebens erleben wir ständig etwas zum ersten Mal. Aber je älter wir werden, desto seltener passiert das. Und oft sind die Premieren dann nicht besonders erfreulich – Bandscheibenvorfall oder erste Reha.
Deshalb interessiert mich: Wie schaffen wir Premieren, die wirklich Freude machen?

Das, was eigentlich eine gute Nachricht ist – nämlich, dass wir älter werden –, kann zum Gespenst werden.

Und dabei geht es nicht um Exklusivität, sondern um das Gefühl, lebendig zu sein – und das ist auch mit kleinen, realisierbaren Dingen möglich. Eine Freundin etwa hat mir erzählt, dass sie sich zu einem Damen-Schafkopf-Turnier angemeldet hatte, Startgebühr: zehn Euro. Sie sagt, sie hatte den besten Tag seit Langem.
Solche Geschichten finde ich spannend, weil sie zeigen: Es braucht gar nicht viel.

Nicht jeder hat das Privileg und die finanziellen Möglichkeiten für einen Neuanfang mit 60.

Genau darüber schreibe ich auch im Buch. Viele Menschen wollen länger arbeiten – nicht unbedingt 40 Stunden, aber sie wollen etwas tun, etwas Neues anfangen.
Aber jede zweite Person in Deutschland hat Angst, im Alter nicht genug zum Leben zu haben. Und bei Frauen ist diese Sorge noch größer. Da bekommt Arbeit plötzlich eine ganz andere Notwendigkeit.
Ich habe neulich mit einem Kollegen gesprochen. Seine Mutter ist 94 geworden – und er meinte: Das könnte ich mir gar nicht leisten.
Und da merkt man: Das, was eigentlich eine gute Nachricht ist – nämlich, dass wir älter werden –, kann zum Gespenst werden. Die Rücklagen reichen vielleicht für zehn Jahre, aber für 20 oder 30? Nein.
Ich finde, Altersarmut ist ein riesiges Thema. 

Sprechen Sie aus persönlichen Erfahrungen?

Ich war selbst naiv. Bis 40 habe ich gedacht: Altersvorsorge? Spießig. Wer macht denn so was? Zum Glück gab es Begegnungen – etwa mit Helma Sick (Finanzexpertin, Anm. der Redaktion) – die mich wachgerüttelt haben. Ich war gerade frisch geschieden und habe gemerkt: Ich habe mir nie Gedanken gemacht, jetzt wird’s Zeit.
Und diesen Impuls habe ich heute oft bei jungen Frauen: Denkt vom Ende her. Ganz egal, ob ihr viel oder wenig verdient, heiratet oder nicht – denkt an übermorgen, auch wenn es sich erst mal altmodisch anfühlt.
Und ja, mir ist völlig klar, dass ich privilegiert bin. Aber ich habe diesen Posten nicht gezielt angestrebt. Ich komme nicht aus besonders gut situierten Verhältnissen.
Ich war BAföG-Empfängerin, ich hatte keine großen Ansprüche. Und dass sich das alles so gut entwickelt hat, ist schön. Aber es war keineswegs vorgezeichnet..

Studiofoto von Brigitte Huber mit entspanntem Gesichtsausdruck – sie erzählt von neuen Erfahrungen, Coaching und dem Leben nach 60.

Foto: Ben Kern

Woher weiß man, ob das Neue das Richtige ist?

Ich glaube, das weiß man eben nicht sofort. Was meinen Sie? 

Wenn ich das wüsste, deswegen frage ich.

Ich glaube, es hilft zunächst, in sich hineinzuspüren: Gab es etwas, das mich früher mal brennend interessiert hat? Gibt es Seiten in mir, die ich nie richtig ausgelebt habe?
Vielleicht hat man jahrelang eher introvertiert gearbeitet, obwohl man eigentlich anders ist – oder umgekehrt.

Ich habe auch schon Dinge ausprobiert, bei denen ich dachte: Das passt zu mir. Und dann war es nur mittel.

Es gibt Methoden, mit denen man das strukturieren kann – was hält mich zurück, was zieht mich wohin? Aber letztlich, glaube ich, muss man Dinge ausprobieren.
Als mich jemand fragte, ob ich glaube, dass mir das Coachen Spaß machen wird, konnte ich vor einem halben Jahr nur sagen: Ich weiß es nicht.
Vielleicht kriege ich eine Panikattacke nach fünf Minuten, weil ich denke: Ich kann der Person gegenüber nicht helfen. Und dann macht man es fünfmal – und es wird besser. Man bekommt ein Gefühl dafür. Ich habe aber auch schon Dinge ausprobiert, bei denen ich dachte: Das passt zu mir. Und dann war es nur mittel.

Es geht um Dinge, die man wieder ins Leben holt – neue Interessen, neue Impulse.

Zum Beispiel?

Ich habe ich mit 40 angefangen, Klavier zu spielen. Ich dachte, das ist super zum Abschalten – bis ich merkte, wie mühsam es ist, als Erwachsene etwas ganz Neues zu lernen. Da spielt man eben nicht Chopin, sondern erstmal „Hänschen klein“. Heute würde ich das vielleicht nochmal ganz anders erleben – mit mehr Ruhe und Zeit.
Das ist übrigens auch etwas, das ich durch das Buchprojekt gelernt habe: Lebenslanges Lernen ist wirklich möglich.
Unser Gehirn ist vielleicht nicht mehr so aufnahmefähig wie mit 20 – aber wir wissen viel mehr, wir sind motivierter, und deshalb können wir Dinge auf eine ganz andere Art lernen. Und es geht ja nicht nur um Berufliches. Es geht um Dinge, die man wieder ins Leben holt – neue Interessen, neue Impulse.
Ein Aspekt, den ich bei Brigitte immer spannend fand, waren unsere Dossiers: Da haben wir oft ganz normale Frauen mit ihren Geschichten gezeigt. Und die wurden dann zu Role Models, weil sie ihren Weg gegangen sind, und das inspiriert. 

Brigitte Huber und Zohre Esmaeli während eines Bühneninterviews, von hinten aufgenommen, auf der Veranstaltung Wolfsburg Women Connect.

Was bedeutet Älterwerden für Sie?

Ich versuche, mich auf die positiven Seiten zu konzentrieren – und davon gibt es viele.
Ich liebe es zum Beispiel, dass ich belastbarer geworden bin. Dass ich heute wirklich weiß: Ich kriege viele Dinge hin.
Das habe ich auch bei der Coaching-Ausbildung gemerkt – wie viel Freude es mir macht, dass ich heute den Luxus habe, bewusst die Perspektive zu wechseln und nicht wie früher im Berufsalltag, wo man ein festes Ziel hat und es durchsetzen muss – sondern dass ich heute gezielt auch mal auf die andere Seite gehen kann.
Das empfinde ich als echten Freiheitsraum.
Solche Dinge sehe ich als Benefits des Älterwerdens – und auf die konzentriere ich mich.

Ich wurde zu einer Buchvorstellung von Alice Schwarzer geschickt – und dachte damals noch: Brauchen wir die heute wirklich noch?
Dafür schäme ich mich heute.

Aber natürlich gibt es auch Seiten, die weniger schön sind. Ich gehe seit 30 Jahren joggen.
Ich wollte nie einen Halbmarathon laufen – nicht mit 40, und mit 60 erst recht nicht.
Da merkt man schon: Körperlich wird man nicht unbedingt noch ein Überflieger. Aber ich habe zum Beispiel angefangen, mehr Krafttraining zu machen.
Früher habe ich das einmal die Woche gemacht – sehr widerwillig.
Jetzt mache ich es zweimal – immer noch widerwillig, aber mit wachsendem Erfolg.
Im Moment allerdings pausiere ich, weil ich eine Schulterverletzung habe. Aber das gehört eben auch dazu – dass man auf sich achtet.
Ich will fit bleiben. Und ich möchte in meine Gesundheit investieren.

Sie sind mit 19 das erste Mal Mutter geworden und mussten damit früh Entscheidungen treffen: Wie geht’s weiter? Beruf oder Kind – oder alles  gleichzeitig? Wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?

Ich glaube, das hat viel zu meiner Resilienz beigetragen.
Ich hatte nie die Wahl zwischen Karriere oder Kind – das Kind war schon da.
Meine Eltern haben mich aber sehr unterstützt, gerade weil sie nicht wollten, dass sich ihre Geschichte wiederholt.
Meine Mutter, sie war ebenfalls 19,  musste damals ihre Ausbildung abbrechen und heiraten. Bei mir haben meine Eltern gesagt: Du beginnst zu studieren – aber du heiratest jetzt nicht gleich. Ich habe dann mein Abi im Mai geschrieben, im September kam mein Sohn.

Hatten Sie damals das Gefühl gehabt, als Alleinerziehende benachteiligt zu werden? 

Ich habe bis etwa 23 oder 24 wirklich geglaubt, Gleichberechtigung sei kein großes Thema mehr. In der Schule hatte ich nie den Eindruck, dass Jungen besser sind oder mehr dürfen. Auch an der Uni oder der Journalistenschule dachte ich: Wir sind auf einem guten Weg. Dann kam mein erstes Praktikum – und meine erste Anstellung bei der Abendzeitung.
Ich erinnere mich: Ich wurde zu einer Buchvorstellung von Alice Schwarzer geschickt – und dachte damals noch: Brauchen wir die wirklich noch?
Dafür schäme ich mich heute, ich hatte es einfach noch nicht verstanden. Aber das kam dann schnell: 90 Prozent der Führungspositionen waren von Männern besetzt. Ich musste mein Kind fast verschweigen. Es wurde komplett ignoriert.
Ich weiß noch, wie es hieß: „Sonntag ist Dienst“ – angesagt am Donnerstag. Und dann musste ich meine Eltern aus Trostberg holen, 100 Kilometer entfernt, damit sie auf meinen Sohn aufpassen.

Es hat sich viel verändert. Nicht so viel, wie wir es gern hätten – aber deutlich.

Ein Kind zu haben war damals ein rein privates Problem. Das kann man mit heute überhaupt nicht vergleichen.
Mir wurde immer signalisiert: Mutter oder Karriere. Beides geht nicht.
Und es gab damals – wir sprechen von den späten 80ern – keine Vorbilder. Keine Chefredakteurin mit Familie.
Das hat mir damals gezeigt: Mit Gleichberechtigung ist es noch lange nicht getan.
Ich habe oft mit jüngeren Kolleginnen gesprochen, die sagten: „Du bist immer noch so optimistisch.“
Und ich habe gesagt: Ja, weil ich den Zeitstrahl sehen kann.
Es hat sich viel verändert. Nicht so viel, wie wir es gern hätten – aber deutlich.
Heute muss keine Mutter mehr so tun, als hätte sie kein Kind. Und das ist ein Fortschritt.

Welche Tipps haben Sie für Menschen, die sich beruflich nochmal neu orientieren möchten – gerade in der zweiten Lebenshälfte?

Ich würde zuerst in mich selbst hineinhören: Was kommt von innen, was regt sich in mir Und: Aufschreiben. Das klingt banal, aber ich erlebe immer wieder, wie hilfreich das ist. Ich weiß von einer Coachin, die Menschen auf den Ruhestand vorbereitet, dass sie eine Liste mit Dingen führen lässt, die sich die Klienten für die Zukunft vorstellen können – und zusammen schauen sie dann über Wochen oder Monate, wie sich die Gewichtung verändert: Manche Ideen fallen ganz raus, andere rücken plötzlich nach oben.
Ein zweiter guter Impuls kommt oft von außen: Gespräche mit Menschen im eigenen Umfeld. Einfach mal fragen: Was siehst du eigentlich in mir? Manchmal erkennt jemand etwas, das man selbst nicht auf dem Schirm hatte.
Dann: Zurückschauen. Gibt es etwas, das früher mal eine Rolle gespielt hat? Vielleicht hat man sich mit 20 oder 30 zwischen zwei Wegen entschieden – und jetzt ist genau der richtige Moment für den anderen.

Dass einem dort plötzlich die eine große neue Idee präsentiert wird – das halte ich für einen Mythos.

Ob man sich komplett neu erfinden muss, ist sehr individuell. Eine Freundin hat mal gesagt: „Man macht vielleicht auch einen Fehler, wenn man all die gesammelte Erfahrung wegwirft, nur um nochmal ganz von vorn anzufangen.“
Andererseits ist es großartig, wenn man als Lernende nochmal neu beginnt. Man bringt dann einen frischen Blick mit, ist neugierig, entdeckt Zusammenhänge, die jemand, der seit 30 Jahren im Beruf ist, gar nicht mehr hinterfragt.
Ich habe erst kürzlich gelesen: Deutschlands ältester Metzger-Azubi ist 65. Und ich dachte nur: Ja – warum denn nicht?
Und auch wenn man auf Studien schaut, zum Beispiel bei Therapeutinnen: Sind die mit 30 Jahren Berufserfahrung wirklich besser als die jungen? Schwer zu sagen. Die einen haben Routine, die anderen bringen Energie und Begeisterung mit – und oft ist genau das wertvoll. Und manchmal lohnt es sich auch ganz pragmatisch, sich ein, zwei Stunden einen guten Coach zu gönnen – um die Gedanken zu sortieren.
Aber dass einem dort plötzlich die eine große neue Idee präsentiert wird – das halte ich für einen Mythos.

Vielleicht weiß man im Innersten längst, wohin es gehen soll – man muss nur den Mut finden, es zuzulassen.

Vielleicht. Und ja – ich wurde im letzten Jahr durchaus von mir selbst überrascht.

 

Buchtipp:

Erhältlich ab 8. Oktober 2025
„Endlich ich – Wie wir mit 60 anfangen,
unser bestes Leben zu führen.“
Brigitte Huber,
Anne-Bärbel Köhle
Asin: B0F22G44KQ

Wer sich mit Brigitte Huber vernetzen möchte:

Irgendwann wusste ich: Ich will nicht noch einmal das Gleiche durchmachen.

Zur Person

Brigitte Huber war fast zwei Jahrzehnte in leitender Position bei der Brigitte, viele Jahre davon als Chefredakteurin. Sie prägte das Magazin in einer Zeit großer Umbrüche. Aufgewachsen ist sie im oberbayerischen Trostberg, heute lebt sie in Hamburg. Mit 19 wurde sie Mutter – eine Erfahrung, die ihre Haltung zu Beruf und Leben nachhaltig geprägt hat. Nach ihrem Ausstieg absolvierte sie eine Coaching-Ausbildung. Derzeit arbeitet sie mit einer Co-Autorin an einem Buch über das 60-Werden, das im Herbst bei S. Fischer erscheint.

Carmen Rohrbach, 76

Carmen Rohrbach, 76

Reisebuchautorin

Carmen Rohrbach, 76

 

Carmen_Rohrbach

„Einsamkeit spüre ich am meisten in Deutschland“

Carmen Rohrbachs Abenteuer begannen mit einem waghalsigen Fluchtversuch aus der DDR. Bestraft wurde sie dafür von den Behörden mit zwei Jahren Frauengefängnis. Nach ihrer Ausweisung in den Westen begann sie das Leben, von dem sie immer geträumt hatte: Auf Kamelen durch die Wüste reiten, monatelang allein in der Wildnis Kanadas leben, entlang der Donau bis zur Mündung reisen. Heute zählt Carmen Rohbach zu den bekanntesten Reiseschriftstellerinnen Deutschlands. Ein Gespräch über Mut, Heimat und Sehnsucht nach der Ferne.

🎧 Die Essenz des Interviews – als Audio-Zusammenfassung:

 

Carmen Rohrbach

Fotos: Carmen Rohrbach

Liebe Frau Rohrbach, was für eine spannende Biografie: Fluchtversuch aus der DDR, zwei Jahre Frauengefängnis, Ausweisung aus der DDR. Den meisten aber sind Sie bekannt als Deutschlands produktivste Reisebuchautorin.

Bei mir sind es so viele Bücher geworden, weil ich mich hauptberuflich ganz dem Schreiben widme. Viele andere machen einmal eine Reise, fahren etwa mit dem Segelboot um die Welt und schreiben dann ein Buch, vielleicht noch ein zweites. Ich dagegen habe mir eben immer wieder andere Themen gesucht – auf den verschiedensten Kontinenten und mit den verschiedensten Hintergründen. Ich hätte auch nie gedacht, dass man vom Schreiben leben kann, aber mir ist es glücklicherweise gelungen.

Wie finden Sie Ihre Ziele?

Die Projekte muss und musste ich mir nie suchen. Sie sind fast alle Früchte meiner Lektüren aus der Jugend. Nachdem ich von Sven Hedin und der Gobi gelesen hatte, wollte ich unbedingt mit Kamelen durch die Wüste reiten.

Nicht nur träumen

Auch Afrika faszinierte mich. Ich habe in der Jugend viele Träume entwickelt – was verrückt ist, da ich in der DDR ja eigentlich kaum Aussicht hatte, sie zu verwirklichen. Doch ich wollte nicht nur träumen. Später in Westdeutschland habe ich dann ein Ziel nach dem anderen verwirklicht: Tansania, Kenia und den Dschungel. Namibia entdeckte ich durch die deutsche Einwanderungsgeschichte.
Ein anderes Beispiel ist die Donau. Ich wollte Flüsse erforschen, ihre Veränderungen von der Quelle bis zur Mündung. Zuerst dachte ich an den Nil, aber als ich las, dass die Nilquellen schon erforscht sind, habe ich mich der Donau zugewandt, die durch zehn Länder fließt und viel Geschichte bietet.

Hat die DDR Ihre Reiselust verstärkt?

Inspiriert von Jack London und Friedrich Gerstäcker wollte ich schon als Mädchen als Trapper oder Holzfäller nach Kanada und fragte mich: Wie kann ich das bloß machen? Ich habe damals sogar Liegestütze trainiert. Dass ich in der DDR eingesperrt war, dass das eigentlich gar nicht möglich war – den Gedanken schob ich immer beiseite. Ich sagte mir immer: „Trotz alledem wirst du es schaffen.“

Geleitet von Träumen

All Ihre Projekte stammen also aus Träumen Ihrer Kindheit?

Genau. Diese Träume waren auch nicht verborgen, sondern immer präsent. Trotzdem war ich oft verzweifelt, dieser innere Drang war immer auch eine große Last. Oft dachte ich: Wenn ich das alles in meinem Kopf nur einfach loswerden könnte, dann könnte ich ein normales Leben führen wie alle um mich herum. Ich fragte mich: Wer hat mich nur mit dieser Aufgabe geschlagen?

Und vielleicht auch mit dieser ungestillten Sehnsucht?

Ja, mit der Sehnsucht nach der Ferne. Ich wollte immer auch zurückkehren. Auswandern oder als Globetrotter die Welt umrunden – das war nicht meins. Ich wollte nicht nur einfach reisen, sondern gezielt erkunden, beobachten und erforschen. Statt oberflächlicher Weltreisen zog es mich in bestimmte Regionen, um sie in der Tiefe zu verstehen. Und ich wusste: Ich werde immer wieder nach Deutschland zurückkehren, weil ich eine Sprache brauche, in der ich das wiedergeben kann, was ich erlebt habe.

Sehnsucht nach Ferne

Wären Sie im Westen aufgewachsen, hätten Sie vielleicht gar nicht dieses Bedürfnis verspürt, die Welt zu entdecken? War die DDR womöglich auch eine Art Antriebsfeder?

Meine Sehnsucht nach Ferne war schon da, lange bevor ich wusste, dass ich in der DDR gefangen bin. Deshalb glaube ich nicht, dass es anders gewesen wäre, wenn ich im Westen aufgewachsen wäre. Vielleicht hätte ich dann nicht Biologie studiert, sondern wäre wie Sie Journalistin geworden – denn ich wollte immer hinaus in die Welt. Mein Studium in der DDR wählte ich mit der Hoffnung, in die Mongolei oder nach Sibirien zu dürfen, um dort zu forschen. Aber auch, weil ich eine tiefe Verbindung zur Natur und zu Tieren hatte und habe.

Ich sagte mir immer: Ich werde es schaffen, irgendeinen Weg finden. Über die Mauer hinweg oder unter der Mauer hindurch. Ich habe diese Zeit, diese Beschränkungen immer beiseite geschoben und nicht so sehr an mich herangelassen.

Meine Sehnsucht nach Ferne war schon da, lange bevor ich wusste, dass ich in der DDR gefangen bin. Deshalb glaube ich nicht, dass es anders gewesen wäre, wenn ich im Westen aufgewachsen wäre.

Fotos: Carmen Rohrbach

Um Ihren Traum vom Reisen zu verwirklichen, blieb Ihnen zu DDR-Zeiten nur ein Ausweg: über die Ostsee nach Dänemark zu paddeln. Um nicht entdeckt zu werden, mussten Sie das Boot versenken. Sie schwammen zwei Nächte und einen Tag, und obwohl bereits im internationalen Hoheitsgewässer, wurden Sie verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der Haft wurden Sie nach Westdeutschland ausgewiesen. Wie hat die Erfahrung Sie beeinflusst?

Ich habe die Erfahrung sicher anders verarbeitet als viele, die mit mir im Gefängnis waren. Das System wollte uns brechen und uns schuldig fühlen lassen. Doch ich wusste, dass es Unrecht war, eingesperrt zu werden – auch wenn mir bewusst war, dass ich gegen die Gesetze der DDR verstoßen hatte.

Widerstand im Gefängnis

Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Gefängnisinsassen?

Ja, erst kürzlich haben mich zwei besucht. Ich war sogar zur 50. Hochzeit meiner „Knastfreundin“ Ute und ihres Mannes Dieter eingeladen – beide waren in der DDR inhaftiert. Und dort traf ich einige, die das gleiche Schicksal teilten.

Für viele ist diese Zeit bis heute das zentrale Thema, eine Last, die sie immer noch mit sich tragen. Ich merke, wie tief die Narben sind. Bei mir ist es anders. Das Gefängnis hat mich nicht gebrochen, sondern in gewisser Weise sogar gestärkt und mein Leben beschleunigt. Der Widerstand hat mich innerlich gestärkt. Vielleicht, weil ich schon immer anders war – wer will schon mit 14 Jahren als Fallensteller nach Kanada?

Während meiner Haft dachte ich oft: „Du musst dir alles merken, du wirst darüber ein Buch schreiben.“ Ich habe mich nicht nur als Gefangene gefühlt, sondern auch als Beobachterin, als Autorin. Viele andere sahen sich vor allem als Opfer – das hat unseren Umgang mit der Erfahrung grundlegend unterschieden.

Kampf gegen Ungerechtigkeit

Macht das den Unterschied: dieses Opferfühlen und Nicht-Opferseinwollen?

Ich glaube nicht, dass man sich bewusst entscheiden kann, kein Opfer zu sein. Ich habe das nicht aktiv gesteuert, sondern erst später analysiert: Warum geht es mir besser als den anderen? Erst da habe ich verstanden, was mit mir und mit ihnen passiert ist.

Während meiner Haft habe ich mich einfach so verhalten, wie es aus mir herauskam. Ich habe die Zeit nicht als Trauma erlebt, sondern als Kampf – ein Kampf gegen Ungerechtigkeit. Wir wurden schikaniert, aber ich habe immer dagegengehalten, nie den Kopf gesenkt. Diese zwei Jahre waren für mich ein Kampf, und das hat mich letztlich gestärkt. Aber das war nichts, was ich mir vorher vorgenommen oder bewusst gesteuert habe – es war einfach meine Art, damit umzugehen.

Sekunden der Panik 

Würden Sie sich als mutig bezeichnen?

Ja. Auf jeden Fall. Mut hat aber auch eine Kehrseite – die Angst. Ich bin sehr vorsichtig und habe viele Gefahren bewusst vermieden. Vielleicht gab es Sekunden der Panik, etwa wenn ich nachts plötzlich Stimmen hörte oder Lichter sah. Vor Menschen habe ich dabei oft mehr Angst als vor Tieren, weil sie unberechenbarer sind.

Um mit der Angst vor Ungewissheit umzugehen, male ich mir vorher genau aus, was passieren könnte. Wenn ich das durchgespielt habe, fasse ich wieder Mut. Ich denke, ich bin genauso ängstlich, wie ich mutig bin.

Das klingt sehr strukturiert.

Ich habe mich immer lange auf meine Reisen vorbereitet, bin nie einfach losgefahren. „Es wird schon gut gehen“ – diesen Gedanken erlaube ich mir nicht. Stattdessen frage ich mich: Was kann ich tun, um Risiken zu minimieren?

Für den Jemen bereitete ich mich zehn Jahre vor – angefangen mit einer Sprachschule und meiner Mitgliedschaft in einer deutsch-jemenitische Gesellschaft. Ich wusste nicht, ob es klappen würde, ob sie mich mit Kamelen ziehen lassen würden. Aber mein Motto war: Wenn du es gar nicht erst probierst, wirst du nie wissen, ob es gelingt. Und dann hat es eben noch zehn Jahre gedauert, bis ich mich gut gewappnet gefühlt habe, um in den Jemen zu reisen.

Ihre Reisen sind selten bequem. Es gibt immer viel zu tragen, wenig zu essen, und Sie laufen querfeldein. Oft wissen Sie nicht, wo Sie übernachten werden. Sie setzen sich bewusst diesen Anstrengungen aus – warum?

Ich suche weder die Gefahr noch Hunger oder Entbehrungen – aber sie ergeben sich, wenn man lange in unbesiedelten Gebieten unterwegs ist. Und gerade, wenn der Körper durch Entbehrung gefordert wird, sind die Erlebnisse viel intensiver, als wenn man in einer Reisegruppe unterwegs wäre.

Beglückendes Erlebnis

In Tansania hatte ich mit Freunden eine Safari gemacht und Löwen sowie Elefanten aus dem Auto beobachtet. Doch in Namibia war ich allein unterwegs. In einem ausgetrockneten Flussbett stand ich plötzlich einem alten Elefanten gegenüber – nur 15 bis 20 Meter entfernt, auf Augenhöhe. Das war ein völlig anderes Erlebnis als aus dem Auto heraus, das war unvergesslich, das ging so tief und war beglückend.

Was macht den Reiz des Alleinreisens aus?

Alleinreisen war nie mein ursprünglicher Plan. Ich hatte immer gehofft, von einer Universität oder Forschungsanstalt entsandt zu werden, um im Team zu arbeiten und darüber zu berichten. Doch als das nicht geschah, wollte ich nicht warten.

Meine Freunde hatten Arbeit oder Familie und konnten höchstens für kurze Zeit mitkommen – aber nicht so lange, wie ich für meine Bücher unterwegs sein wollte und musste. Also bin ich allein aufgebrochen. Und mit der Zeit merkte ich die Vorteile: Allein war ich unabhängig, konnte bleiben, wo ich wollte, und musste keine Kompromisse eingehen. Am wichtigsten aber war, dass ich überall schneller Anschluss fand.

Ich bin für meine Projekte auch meist allein unterwegs, weil man offener ist für das, was einem unterwegs begegnet. Die Menschen gehen anders auf einen zu. Aber zwischendurch fühle ich dann auch Einsamkeit. Und dann geht es mir gar nicht so gut. Wie gehen Sie mit der Einsamkeit beim Reisen um? Oder kennen Sie das Gefühl gar nicht – unterwegs sein und einsam?

Einsamkeit spüre ich am meisten in Deutschland – zum Beispiel allein im Kino oder im Museum. Nicht, weil ich Angst davor hätte, sondern weil mir der Austausch fehlt. Nach einem Film würde ich gern darüber sprechen, aber man kann ja nicht einfach einen Fremden ansprechen.

Teil der Natur 

Unterwegs hingegen kenne ich dieses Gefühl kaum. Selbst in der Blockhütte, in der ich fast fünf Monate allein war, fühlte ich mich nicht einsam. Die Natur um mich herum – Tiere, Wind, Sturm, Wölfe, Elche, Bäume – alles nahm mich auf. Je länger ich dort war, desto mehr wurde ich ein Teil des Ganzen.

Ich habe wohl von Kindheit an eine tiefe Verbundenheit zur unberührten Natur. In der Wildnis, wo keine Menschen sind, fühle ich mich geborgen – egal, ob in dichten Wäldern oder in der Weite der Wüste. Vielleicht ist das eine Gabe, die mir mitgegeben wurde. Wie ein kleines Teil werde ich dann von diesen Wäldern, von der Steppe oder auch von der Wüste aufgenommen. In der Weite, in der Wüste fühle ich mich genauso geborgen wie in dichten Wäldern.

Das Reisen hat sich stark verändert, vieles ist dank der Technik sehr viel einfacher geworden.

Ich reise immer noch mit Karten so wie früher. Ein Smartphone oder GPS habe ich nicht dabei – was würde mir das in Kanada, im Jemen oder in Patagonien nützen? Oft gibt es keinen Empfang, und der Akku lässt sich nicht aufladen. Menschen mit Autos können das vielleicht nutzen, aber ich möchte ganz in die Umgebung eintauchen und mich nicht von der digitalen Welt ablenken lassen.

In Kanada, wo ich lange in der Hütte lebte, fehlte mir manchmal Musik – nicht Nachrichten, nur Musik. Da ich keine hören konnte, habe ich selbst gesungen, aber das war nicht besonders erfolgreich. Also habe ich lieber dem Wind gelauscht.

Lust am Aufbrechen

Sie ziehen also immer noch los, wie Sie immer losgezogen sind. Verspüren Sie überhaupt keinen Wunsch nach Komfort und Bequemlichkeit?

Bisher spüre ich ihn nicht, vielleicht kommt er irgendwann. In meinem Bekanntenkreis höre ich oft von Altersbeschwerden, aber da kann ich nicht mitreden. Vielleicht ist es wie bei Pianisten oder Dirigenten – da wundert man sich auch, dass sie im hohen Alter noch solche Strapazen auf sich nehmen und ein ganzes Konzert über viele Stunden dirigieren. Ich denke, solange man immer weiter macht, bleibt man in Übung.

Mein Bruder etwa ist 14 Jahre jünger. Wir waren zusammen in Kasachstan unterwegs, und ihm fiel es viel schwerer, dort zu zelten, auf huckeligem, steinigem Boden zu schlafen und immer wieder aufs Neue aufzubrechen. Da habe ich schon gemerkt, dass ich da viel geübter bin als er.

Wie ist es, allein als Frau zu reisen?

Früher haderte ich damit, eine Frau zu sein, weil all die großen Entdecker und Forscher Männer waren. Doch unterwegs stellte ich fest, dass genau das ein Vorteil sein kann. So waren es immer die Frauen, die mir den Weg bereiteten, mich aufnahmen und schützten. Unter ihnen war ich geborgen, und kein Mann traute sich an mich heran.

Heimat der Erinnerung

Sie sagten vorhin, Sie wollten immer wieder zurück nach Deutschland. Zugleich sind Sie immer wieder unterwegs, während andere an dem Ort verharren, an dem sie aufgewachsen sind. Diese Menschen sind mit Ihrer Heimat verbunden – fühlen sich in ihr geborgen. Wo finden Sie Ihre Heimat?

Das Thema Heimat ist kompliziert und sicher für jeden anders. Ich glaube, ein tiefes Heimatgefühl entsteht dort, wo man aufgewachsen ist, wo die Eltern geboren wurden, wo man Schulfreunde, die erste Verliebtheit erfahren und feste Wurzeln hat. Diese Wurzeln wachsen in der Kindheit – doch bei mir wurden sie immer wieder gekappt.

Zuerst lebten wir in Bautzen, wo ich als Kind die Natur entdeckte. Doch mit sechs Jahren zogen wir weg. In Freyburg an der Unstrut verbrachte ich dann meine prägendste Zeit, von sechs bis vierzehn, das würde es als meine Heimat bezeichnen. Doch heute habe ich dort niemanden mehr – keine Freunde, keine Familie, nur die Landschaft und Erinnerungen. Es ist eine Heimat der Erinnerung.

Am Ammersee, wo ich jetzt lebe, gefällt es mir, aber es ist anders. Die Menschen hier, vor allem die alteingesessenen Familien, leben seit Generationen hier, kennen ihre Vorfahren bis ins 15. oder 16. Jahrhundert. Zugezogene wie ich bleiben fremd, auch wenn ich mich akzeptiert fühle. Und doch bedeutet das für mich auch Freiheit – ich kann immer wieder aufbrechen, ohne an einen Ort gebunden zu sein.

Buch-Tipp
Carmen Rohrbach hat über 20 Bücher geschrieben, eines herauszugreifen fällt schwer.
Wer aber mehr über ihre Fluchtgeschichte erfahren möchte und ihre Zeit im Frauengefängnis Hoheneck, sollte dieses Buch lesen:
So lange ich atme
Malik Verlag
256 Seiten
ISBN 978-3492405317

Mehr Informationen:
https://carmenrohrbach.de

Während meiner Haft habe ich mich einfach so verhalten, wie es aus mir herauskam. Ich habe die Zeit nicht als Trauma erlebt, sondern als Kampf – ein Kampf gegen Ungerechtigkeit.

Kristin Schnell, 56

Kristin Schnell, 56

Fotografin

Kristin Schnell, 56

 

Kristin Schnell Fotografin OF CAGES & Feathers

„Ziegen und Schafe sind der Oberknaller. Die sehen immer lustig aus“

Ihre Fotos sind eine Offenbarung: Knallig bunt wie Konfetti und zugleich so berührend, dass es einem die Seele wärmt. Kristin Schnell hat in der Tierfotografie neue Maßstäbe gesetzt. Ihre Models findet sie auf dem Gnadenhof oder inszeniert sie kunstvoll in der Voliere. Mit ihren Bildern  gibt sie den Tieren nicht nur ihre Würde zurück; sie sind zugleich ein starker Appell für eine artgerechte Haltung und Mahnung, die Schicksale der Tiere nicht zu vergessen. Kristin Schnell sagt: „Die Tiere inspirieren mich, und vielleicht kann ich durch meine Arbeit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit darauf lenken, wie wir mit unseren Mitmenschen und den anderen Kreaturen auf diesem Planeten besser umgehen können – und auch, wie wir vielleicht besser mit uns selbst umgehen.“ 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Fotos: Kristin Schnell

Vor knapp vier Jahren zog Kristin Schnell von Berlin gemeinsam mit ihrem Mann nach Mecklenburg an die Ostsee. Der Wechsel aufs Land wurde für die Fotografin zu einer Art Weckruf und veränderte ihre Arbeit, weg von der Werbe- und Modefotografie hin zur fotografischen Auseinandersetzung mit Tieren. Entstanden ist dabei etwa die Serie „Not good enough“, für die sie auf dem Gnadenhof „Lotti“ traumatisierte und verletzte Tiere porträtierte, um auf deren Schicksal aufmerksam zu machen.  Für ihre Bilder genießt die 56-Jährige internationale Anerkennung; gerade ist ihr wunderschöner Bildband Of Cages and Feathers erschienen. Ein Gespräch über Massentierhaltung, die Kunst der Lichtsetzung und darüber, welches Tier das größte Fotoshooting-Potenzial besitzt.

 

Frau Schnell, wie sind Sie zur Tierfotografie gekommen?

Ich habe schon immer gerne Tiere fotografiert und sie inszeniert. Mit 13 Jahren fing ich damit an. Irgendwann aber hieß es: ,Was willst du eigentlich immer mit diesen Tierfotos? Das interessiert doch niemanden.‘ Deswegen habe ich es erst einmal gelassen. Aber als ich mit meinem Mann nach Mecklenburg zog, dachte ich, das wäre eine gute Gelegenheit herauszufinden, was wirklich in mir steckt. Ich fragte mich: ,Was bringt dich eigentlich dazu, morgens aufzustehen und Freude zu empfinden?‘ Die Antwort war: die Tierfotos.

Wenn Sie sagen, Sie haben schon immer Tiere fotografiert, von was für Tieren reden wir da?

Ich erinnere mich etwa daran, dass wir einmal den Wellensittich von Freunden zu Besuch hatten. Er war gelb, und ich habe ihn vor einem gelben Hintergrund auf eine Zitrone gesetzt. Eigentlich war das damals gar nicht so anders als das, was ich heute mache – nur jetzt natürlich professioneller und mit 30 Jahren Berufserfahrung.

Umzug führte zu Wandel in fotografischer Ausrichtung

Und dann?

Als wir aufs Land zogen, wurde mir klar, was Tierhaltung wirklich bedeutet. Nicht, dass ich das nicht liebe, wo ich lebe, aber meine Nachbarn etwa hielten Hasen in kleinen Boxen in der Garage ohne Licht,  und wenn die geschlachtet wurden, dann wurden die teilweise vor ihren Kameraden hingerichtet. Ich dachte, das gibt es doch nicht. Ich rief dann bei den Massentierhaltern in der Umgebung an, um zu fragen, ob ich ihre Tiere fotografieren dürfe, die Antwort war aber immer die gleiche: ,Du spinnst wohl‘. Dann stieß ich auf den Gnadenhof – damit begann ein neues Kapitel. Zuerst fotografierte ich nur Tiere mit weißem Fell, um ihr gemeinsames Schicksal zu dokumentieren, später dann alle anderen.

Der Umzug aufs Land veränderte Ihre Wahrnehmung?

Bis dahin hatte ich eine andere Vorstellung von Tierhaltung. Plötzlich aber befand ich mich in einer Gegend, in der Massentierhaltung existiert oder die Menschen einfach nicht gut mit den Tieren umgehen.

Fotografie auf dem Gnadenhof

Sie landeten in der Realität?

Ja, Wahnsinn! Es ist zwar schön bei uns, aber abends oder nachts kommen die Trecker und behandeln die Felder mit Pestiziden. Ich bin noch mit den Feldlerchen aufgewachsen, hier aber gibt es gar nichts mehr, vielleicht sieht man mal einen Hasen oder einen Fasan, aber das ist selten. Das liegt an den Monokulturen, die hier angebaut werden. Das sind keine essbaren Pflanzen, sondern sie werden zur Produktion von Biogas genutzt. Für mich sind die porträtierten Vögel eine Metapher für Freiheit, auch für meine eigene. Die Tiere inspirieren mich, und vielleicht kann ich durch meine Arbeit ein bisschen mehr Aufmerksamkeit darauf lenken, wie wir mit unseren Mitmenschen und den anderen Kreaturen auf diesem Planeten besser umgehen können – und auch, wie wir vielleicht besser mit uns selbst umgehen.

Wie reagierten die Tiere auf dem Gnadenhof Sie?

Es war, als spürten sie in diesem Moment die besondere Aufmerksamkeit  – vielleicht merkten sie sogar, dass es etwas Positives ist. Die Tiere, die auf dem Gnadenhof leben, wurden von ihren früheren Besitzern ja nicht eben gut behandelt, sie haben ein ziemlich bitteres Leben hinter sich.

Es war, als spürten die Tiere in diesem Moment die besondere Aufmerksamkeit  – vielleicht merkten sie sogar, dass es etwas Positives ist.

Fotos: Kristin Schnell

Wie durchgeplant gehen Sie bei der Arbeit vor?

Ich schaue mir die Tiere vorher an und überlege, welche Hintergrundfarbe am besten zu ihnen passt. Am Anfang, wie gesagt, habe ich nur weiße Tiere fotografiert. Aber später kombinierte ich Farben, weil gerade eine zweite Farbe das Potenzial der ersten noch stärker zur Geltung bringt. Zum Beispiel habe ich zwei braune Ziegen vor einem blauen Hintergrund fotografiert, das sah irre schön aus. Ich arbeite oft mit kräftigem Gegenlicht und setze vorne ein härteres Licht im Stil der 1920er-Jahre ein – ähnlich wie damals bei Filmstars oder in der Beauty-Fotografie.

Was geht in Ihnen während der Arbeit vor?

Eigentlich nicht so viel. Beim Fotografieren nehme ich nicht so sehr Kontakt zu den Tieren auf, sondern konzentriere mich eher auf meine Arbeit hinter der Kamera. Aber es ist, als nutzen die Tiere die Bühne für sich selbst. Da war zum Beispiel ein Esel: Zunächst war er sehr schüchtern. Ein Jahr später aber fotografierte ich ihn erneut und er war kaum wiederzuerkennen. Er schaute nicht mehr scheu nach unten, sondern lachte jetzt sogar, weil seine Pflegerin mit ihm das Lachen geübt hatte. Dieser Esel hatte tatsächlich sein Vertrauen in die Menschen zurückgewonnen. 

Herangehensweise an die Fotografie

Welches Schicksal beschäftigte Sie besonders?

Am grausamsten finde ich die Massentierhaltung von Hühnern. Tausende Tiere, die  ohne Tageslicht auf engstem Raum leben und ständig Eier legen müssen, bis  ihre Hintern wund und blutig sind. Nach 14 Monaten werden sie dann mit LKWs nach Polen oder anderswohin transportiert, wo man sie lebendig schreddert, weil sie sowieso schon so ein beschissenes Leben hatten. Anschließend kommen sie als Tierfutter zurück. Das nennt sich dann „Haltungsform vier“, mit der man noch großspurig wirbt. Bei uns in der Gegend gibt es übrigens keinen einzigen Supermarkt, der Fleisch aus ethischer Tierhaltung anbietet.

Das ist bitter.

Manchmal können Gnadenhöfe Tiere freikaufen oder Tierschützer versteckte Hühner retten, bevor Ställe gereinigt werden. Innerhalb von Monaten erholen sich die Tiere sichtbar, auch wenn sie dann oft nur noch eine Lebenserwartung von höchstens zwei Jahren haben; den Stress der Vergangenheit können sie nicht mehr aufholen. Sie sitzen dann aber wenigstens in der Sonne, scharren im Boden, ihre Federn wachsen nach, und nach drei bis vier Wochen legen sie auch nicht mehr ständig Eier. 

Neue Perspektiven 

Kann ein Foto zu realistisch, zu gut sein?

Ich denke, ein Foto kann nicht zu schön oder zu intensiv sein. Manche Tiere fotografiere ich bewusst ein bisschen kitschig, um Aufmerksamkeit zu erregen und um zu vermeiden, dass die Leute denken: ,Ach, schon wieder so ein misshandeltes Tier‘. Deshalb separiere ich die Tiere auch aus ihrer natürlichen Umgebung, damit nichts ablenkt und der Blick ausschließlich auf das Tier gerichtet ist.

Wodurch wird ein Porträt besonders berührend?

Wenn die Tiere auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen oberflächlich schön wirken, man aber auf den zweiten Blick erkennt, dass es geschundene Kreaturen sind. Wenn zum Beispiel ein Auge fehlt, ein Ohr verletzt ist, der Rücken krumm oder die Hufe entzündet sind. So etwas berührt.

Tiere mit Model-Qualitäten

Welches Tier hat das größte Fotoshooting-Potenzial, wer sind echte Poser?

Das sind definitiv die Ziegen, die sind der Oberknaller. Oder die Schafe. Die sehen immer lustig aus, egal, wie die sich hinstellen. Sie sind neugierig und witzig. Einmal war da eine grau gestreifte Straßenkatze, immer, wenn ich im Stall fotografierte, saß sie im Hintergrund und beobachtete uns. Die Tierpflegerin meinte: ‚Mensch, fotografiere sie doch mal!‘ Als ich das tat, stellte sich die Katze plötzlich auf die Hinterbeine, als wollte sie sagen: ‚Schau, ich habe auch weißes Fell am Bauch!'“

Echt?

Es war, als wollte sie schon die ganze Zeit fotografiert werden. Und als es endlich soweit war, setzte sie sich wirklich perfekt in Szene.

Zukünftige Vorhaben 

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit heute von früher?

In den vergangenen dreißig Jahren habe ich vor allem Kinder und Jugendliche fotografiert, oder in der Werbung gearbeitet – zum Beispiel für Nuk, die Schnullerfirma, oder für Kataloge. Ein Teil der Shootings fand auf Curaçao statt. In der Karibik aber ist das Licht zur Mittagszeit immer senkrecht, sodass man nur mit zusätzlichem künstlichem Licht fotografieren kann. In dieser Zeit habe ich unglaublich viel über Lichtsetzung gelernt, davon profitiere ich heute, ich muss nicht mehr viel experimentieren.

Welche Parallelen gibt es zwischen Tierfotografie und Kinder-/Jugendmode? 

Im Grunde sind beides professionelle Schnappschüsse. Auch mit Kindern kann man, je nach Alter, vielleicht maximal eine halbe Stunde arbeiten. Das Set muss vollständig aufgebaut sein, die Kleidung bereits angezogen, und dann setzt man das Kind hinein. Man hat dann nur wenige Minuten, in denen alles passen muss. Bei meinen Vögeln ist es allerdings anders, da muss ich viel mehr Geduld aufbringen, weil die Voliere so groß ist und sich das Licht ständig verändert. Da muss ich lernen loszulassen, aber gleichzeitig sofort bereit zu sein, wenn der Moment da ist.

Gewonnene Freiheit

Wie hat der Umzug aufs Land Sie verändert?

Zum Beispiel in Bezug auf meine eigene Freiheit. Eigentlich wollte ich nie Grundbesitz oder ein Haus haben, weil ich mir die Möglichkeit offenhalten wollte, jederzeit woanders hinziehen zu können. Ich fand das Landleben auch immer etwas beengend, aber jetzt, wo wir ein schönes Haus haben und viel Platz für Freunde, habe ich das Gefühl, ein Stück meiner eigenen Freiheit gewonnen zu haben.

Gibt es Pläne, die Arbeit auf dem Gnadenhof fortzusetzen?

Das wäre schön. Aber bisher haben die Verlage eher abgewinkt; sie sehen darin mehr ein Sachbuch als ein Kunstbuch. In den letzten sechs Monaten habe ich mich vor allem auf mein Vogelbuch konzentriert, und auch in der nächsten Zeit werde ich daran weiterarbeiten.

Der Blick zurück 

Was hätten Sie rückblickend gerne früher gewusst? 

Ich hätte gerne früher gewusst, daß die letzten 30 Jahre die Männer bevorzugt wurden, in der Modefotografie und in der Kunstwelt. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, Frauen werden ernster genommen und haben es dadurch in der Kunstwelt inzwischen etwas einfacher.

Was machen Sie heute anders als früher?  

Ich versuche nicht mehr etwas zu erzwingen, sondern bin gelassener.

 

Buch-Tipp
Of Cages and Feathers
Kristin Schnell
KEHRER Verlag
128 Seiten
ISBN 978-3969001806

Mehr Informationen:
https://www.kristin-schnell.de/

Infos zum Gnadenhof: 
https://www.aktiontier-lottihof.de/

Ich versuche, Freiheit in meinen Bildern zu schaffen, indem ich meine eigenen Grenzen überschreite.

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Tanja Köhler, 56

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„Ich bin eine
einsame Wölfin“

Tanja Köhler gehört zu der Sorte Mensch, die morgens gut gelaunt in den Tag springt und die auch sonst nichts leicht aus der Bahn wirft. Auf einer Glücks-Skala von eins bis zehn ordnet sie sich selbst bei 12 ein. Ihr Weg dorthin führte über einen beruflichen Neustart, eine Scheidung und viele inneren Disput. Ihr Rat an andere: ‚Schaut in den Spiegel – und stellt euch die Frage: Was ist es, was dich glücklich macht?‘ Ein Gespräch über Irrwege, Klarheit  – und Gänseblümchen des Alltags.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Du arbeitest als Radiomoderatorin, Coach, Beraterin, bist Bestsellerautorin. Wer und wie viele bist du denn?

Ich bin eine schizophrene Persönlichkeit. Man könnte sagen: Von allem ein bisschen. Meine Neugierde auf diese Welt lässt mich in viele Richtungen schauen, ich mag mich tatsächlich nicht gerne festlegen. So bin ich etwa auch ein Naturmensch, das wird, glaube ich, immer etwas vergessen.

Stimmt. In deinem Buch „Rauhnächte“ sprichst du über deine Neujahrswanderungen. 

Ja. Diese Wanderungen gehören seit vielen Jahren zu meinen festen Ritualen. Aber auch sonst bin ich jeden Tag bei Wind und Wetter mindestens zwei Stunden draußen. Ich habe einen riesigen Hund, den Luke, der treibt mich an. Morgens um 7 Uhr geht es los. Mittags will er auch noch mal, und abends, wenn ich Lust habe, gehe ich auch noch mal mit ihm raus. Das ist toll, das sortiert das Leben.

Gott sei Dank habe ich meinen Trotzkopf durchgesetzt.

Gilt das schon als Selbsttherapie?  

Die Natur gibt mir einfach viel. Und doch sind diese Spaziergänge für mich aber auch eine Art kreativer und klärender Prozess. Beim Gehen befinde ich mich in einem inneren Dialog. Ich habe immer das Handy dabei und sende mir kurze Sprachnachrichten, wenn ich etwa eine Lösung für ein Problem gefunden habe oder mir eine kreative Redewendung einfällt, das mache ich alles von unterwegs.

Du hast einmal gesagt, auf einer Glücksskala von 1 bis 10 würdest du dich bei 12 einordnen. 

Mir geht es tatsächlich gut, ich bin glücklich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht auch schlechte Tage hätte. Die kommen allerdings nur zweimal im Jahr vor. Und was auch nicht heißt, dass ich ein einfaches Leben hätte. Insgesamt aber bewege ich mich auf einer ganz tollen Basis.

Wie bist du dahin gekommen?  

Ich habe in meinem Leben zwei riesige Lebensentscheidungen getroffen, ich nenne sie „Bäm-Entscheidungen. Das eine war eine schwerwiegende berufliche Entscheidung. Nach dem Abitur machte ich eine Ausbildung zur Kauffrau im Groß- und Außenhandel  – und arbeitete in dem Bereich auch vier Jahre. Dann merkte ich aber schnell, dass das nichts für mich ist und meldete mich heimlich für ein Studium in Psychologie an. Als ich meinen Eltern davon erzählte, sagte mein Vater: ‚Wenn du das machst, dann habe ich keine Tochter mehr.‘ Meine Eltern waren zwar nicht prinzipiell gegen ein Studium; nach dem Abitur hätte ich direkt eines machen können. Sie konnten nur nicht verstehen, dass ich einen gut bezahlten Job für ein Studium aufgebe – zumal ich in der Schule nicht gewesen bin. Gott sei Dank aber habe ich mich nicht irritieren lassen, sondern meinen Trotzkopf durchgesetzt.

Paare spüren, wann etwas zu Ende ist.

Und die zweite Entscheidung?

War die Trennung von meinem Mann nach 23 Jahren und einem gemeinsamen Kind. Am Schluss war es dann zwar eine einvernehmliche, tolle Trennung, aber ich habe acht Jahre für diese Entscheidung gebraucht.

Was war passiert?  

Wir haben noch das 100er Fest miteinander gefeiert, das heißt, wir haben beide zusammen unseren jeweiligen 50. Geburtstag gefeiert. Das war am 19. November. Und dann, an Weihnachten, habe ich ihm gesagt, es geht nicht mehr. Beziehungsweise, mein Mann war zu dem Zeitpunkt gerade bei seiner Herkunftsfamilie – und ich habe ihm das alles in einer Email geschrieben. Das war der Anfang vom Ende.

Du hast es ihm geschrieben?

Ja, ich konnte es ihm nicht sagen, ich war zu feige. Und ich glaube, für ihn kam es nicht aus heiterem Himmel. Paare spüren, wann etwas zu Ende ist.

Wann war dein Moment der Klarheit, wann wusstest du, dass du dich trennen willst?

Also, dass ich es will, das wusste ich tatsächlich schon acht Jahre davor. Aber die Klarheit, dass ich es nicht mehr aushalte, das wurde mir erst durch die Arbeit an den „Rauhnächten“ bewusst und durch das eigene innere Hineinhorchen. Ich hatte immer den Glaubenssatz, dass ich es besser machen müsste als meine Eltern in ihrer Ehe. Bis ich kapierte, dass „besser machen“ nicht „aushalten“ heißt, sondern dass besser machen heißt, eine gute Trennung hinzukriegen. Es wäre sicher irgendwie eine zeitlang mit uns noch gut gegangen, ich habe ja nicht gelitten in dem Sinne, dass ich geschlagen wurde, wir haben nicht gestritten, aber wir sind uns aus dem Weg gegangen, wir hatten nichts mehr gemeinsam, außer unser gemeinsames Kind. 

Wie hat dein Mann reagiert? 

Auf die Email erst einmal gar nicht. Aber als er dann wieder Zuhause war, sind wir eine große Runde spazieren gegangen und wir haben darüber gesprochen. Irgendwann schaute er mich dabei ganz ehrlich an und sagte: „Da gibt es, glaube ich, keine Chance mehr für uns.“

Teile dich mit. Sprich darüber. Such dir Hilfe.

Muss man immer erst durch ein tiefes Tal, bevor sich Dinge bessern? Welchen Rat würdest du jemandem geben, der an einem ähnlichen Punkt in seinem Leben steht?

Da gibt es keine pauschalen Antworten. Es hat viel damit zu tun, wie wir gelernt haben, mit Konflikten umzugehen. Ich etwa bin super gut im Beraten von anderen Menschen, und wenn ich mich als externe Beraterin hätte beraten müssen, hätte ich mich schon acht Jahre zuvor in dieses Tal hineingeschickt. Aber ich bin eine einsame Wölfin. Das heißt, ich mache alles mit mir selbst aus, setze eher auf die Strategie der vollendeten Tatsachen, wie ich sie ja schon damals angewendet hatte, als ich meinen Eltern erst von meinem Studium erzählte, als ich den Studienplatz schon hatte. Wenn ich mich aber selbst beraten müsste, würde ich es mir anders empfehlen.

Nämlich?  

Teile dich mit. Sprich darüber. Such dir Hilfe.

Wovon ist abhängig, wie jemand mit solchen Fragen und Ängsten umgeht?

Ich denke, das hat ganz viel mit Vorbild zu tun. Wir – die Babyboomer – entstammen ja einer Generation, die ihre Kindheit in der Kriegs- oder Nachkriegszeit verbracht hat. Unsere Eltern mussten lernen, ihre Probleme mit sich selbst auszumachen. Nach dem Motto: „Was jammerst du?“ „Was hast du jetzt für ein Thema?“ „Sei froh, dass du überhaupt lebst.“ Und das ist das, was auch ich mitbekommen habe.

Das heißt, die Umgang mit Problemen wird quasi vererbt?  

Die Kinder von damals, also diese Generation der Kriegskinder zwischen 1935 bis 1946, die haben alle etwas Ähnliches erlebt. Ein Drittel ist dabei relativ unbekümmert durch den Krieg gekommen, weil sie gut behütet irgendwo leben konnten. Die haben zwar auch Verluste erlebt, aber nicht so dramatisch. Dann gab es ein Drittel, das traumatisiert worden ist, dazu gehört mein Vater, er ist Jahrgang 1940. Dieser Teil hat zwar schlimme Sachen erlebt, das etwa das eigene Haus zerbombt worden ist, aber sie haben überlebt. Und dann gab es noch das Drittel von Kindern, das damals schwerst traumatisiert worden ist, etwa als Opfer von Straftaten. Und je nachdem, zu welchem Drittel die Eltern zählen, hat man deren Bewältigungsstrategien übernommen, die am Ende fast alle nicht wirklich förderlich sind.

Manche flüchten sich vielleicht deswegen auch in eine depressive Stimmung.

Und davor gibt es kein Entkommen?  

Da kommt es darauf an, wie reflektiert man selbst damit umgeht. Also grob gesagt, war die Generation unserer Eltern dazu verdonnert, die Trümmer wegzuräumen. Und wir, also du und ich, wir sind dafür da, unsere seelischen Trümmer wegzuräumen. Und unseren Kindern wieder geben wir mit, wie man damit umgehen kann.

Was aber nicht erklärt, warum ausgerechnet die Lebensmitte für viele Menschen heute so schwierig ist. Oder?

Sagen wir so: Hier geht es um das Besetzen von Freiräumen. Und Freiräume entstehen, wenn Rollen sich verändern. So lange, wie mich etwa mein Sohn gebraucht hat, war keine Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken oder über meine eigene Endlichkeit. Wenn aber die Zeit kommt, in der man beginnt, einige Rollen abzulegen, weil man etwa in Rente geht oder weil die Kinder ausziehen, entsteht plötzlich ein Freiraum, der gefüllt werden will. Manche wissen dann nicht, wie sie ihn füllen können und flüchten sich deswegen vielleicht auch in eine depressive Stimmung. Wohlgemerkt, das ist jetzt sehr plakativ. Mich suchen üblicherweise ja eher Frauen auf, die nicht geschoben werden wollen, sondern denen ich nur ein bisschen Mut machen muss.

Wenn rauskommt, es braucht erst eine Bäm-Entscheidung, dann such dir Hilfe.

Es geht ihnen um einen Richtungswechsel, um eine Korrektur, nicht um die großen lebensentscheidenen Fragen?  

Es geht in der Regel zumindest nicht um komplett neue Lebensentwürfe, häufig sind nur kleine Änderungen vonnöten. Kleine Änderungen, die etwas Großes bewirken. Ich nenne als Beispiel immer gern das Märchen von der Prinzessin, die auf einer kleinen doofen Erbse geschlafen hat; alles tat ihr weh. Dann aber war die Erbse weg und die Prinzessin konnte gut schlafen. Und das heißt im Umkehrschluss: Es müssen nicht immer große Veränderungen sein, sondern man sollte schauen, welche kleinen Veränderungen man hinkriegt, um sagen zu können, ich habe ein erfülltes Leben.

Also Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben. Wie starte ich so etwas  – in zwei, drei Sätzen? 

Schau in den Spiegel, halte den Blick aus – und stelle dir die Frage: Was ist es, was mich glücklich macht? Wenn die Frage Antwort lautet: Ich bin glücklich, dann ist das doch super. Dann wäre die Anschlussfrage: Was kannst du weiterhin tun, um jeden Tag einen tollen Tag zu haben. Wenn aber rauskommt, es braucht erst ein Bäm, eine Bäm-Entscheidung, dann such dir Hilfe.

Ich nenne es die Gänseblümchen des Alltags.

Und so landet man dann irgendwann bei Glücksgefühl 12 auf der Skala eins bis zehn?  

Für mich kann ich sagen: Nach unserer Trennung fing ich wieder an, die kleinen Dinge zu sehen und wertzuschätzen. Und du wirst lachen; jeden Morgen schreibe ich in ein Heft, was ich mir an diesem Tag Gutes für „Beauty und Seele“ tun kann, was ich tagsüber Schönes machen will. Das ist mindestens eine Sache. Egal, ob eine Maniküre oder ein Cappuccino draußen auf der Terrasse. Ich nenne es die Gänseblümchen des Alltags.

Und was hast du dir für heute Schönes vorgenommen?

Ich werde meinen Sohn nachher abholen und wir werden gemeinsam einem süßen Stückchen frönen. Ich freue mich schon diebisch darauf; es sind nur zehn Minuten, aber die Zeit mit ihm ist so kostbar.

Buchtipp:

„Rauhnächte“ – 12 Tage nur für dich.“
Tanja Köhler,
Knesebeck Verlag
144 Seiten
ISBN 978-3957287151

Außerdem von ihr erschienen:
„Vorwärts heißt zurück zu mir –
Aufbruch in ein selbst bestimmtes Leben“
Kösel-Verlag
256 Seiten
ISBN: 978-3466348107

Mehr Infos zu Tanja Köhler hier:

www.die-tanja-koehler.de

Mir geht es tatsächlich gut, ich bin glücklich. Was aber nicht heißt, dass ich nicht auch schlechte Tage hätte.

Zur Person

Tanja Köhler berät seit über 20 Jahren vor allem mittelständische Familienunternehmen in der Entwicklung der Führungskräfte und Mitarbeiter. Neben ihrer Arbeit als Coach moderiert sie die Radio-Sendung „Sag mal Tanja?!“ auf Antenne 1 Neckarburg. Mit ihrem Sachbuch „Rauhnächte – 12 Tage nur für dich“ landete sie auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Susanne Krauss, 57

Susanne Krauss, 57

Fotografin

Susanne Krauss, 57

„Ich glaube, es macht großen Sinn, die Leute zu ermutigen, einfach so zu sein wie sie sind“

Im Alltag sind sie es längst: Superheldinnen. Frauen über 70, die von einem Leben zu erzählen wissen, das nicht nur Höhen kennt. Die Fotografin Susanne Krauss aus dem bayerischen Grafing hat sie ins Scheinwerferlicht geholt. Mit leicht ironischem Blick  verschafft sie den Frauen den Respekt und die Anerkennung, die sie für ihre Leistungen verdienen. Ihre „Granniegang“ ist eine liebevolle Hommage an das Alter. Susanne Krauss selbst sagt: „Niemand von uns will unsichtbar sein. Allen Menschen geht es  ja von Geburt an so, dass sie Wertschätzung erfahren wollen oder ein bisschen Anerkennung.“

 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Fotos: Susanne Krauss

Wie bist du auf die Idee zum Granniegang-Projekt gekommen? 

Ich beschäftige mich ja schon lange mit Menschen in allen Lebenslagen. Und irgendwann fiel mir auf, dass Frauen mit zunehmendem Alter, ich sage mal, mit dem Eintritt ins Rentenalter, in der Wahrnehmung der Gesellschaft langsam verschwinden. 2017 entstand dann ein Projekt, bei dem ich Frauen in Superheldinnen-Kostümen aus bereits vorhandenen Fotos in Photoshop zusammenstellte und als Collage präsentierte. Diese Porträts kamen bei älteren Damen so gut an, dass ich mir dachte, da könne man mehr daraus machen. Ich erkundigte mich im Bekanntenkreis bei meiner Mutter und auch bei anderen älteren Frauen, ob sie vielleicht Interesse hätten, sich von mir in Superheldinnenkostümen porträtieren zu lassen. Aber leider konnte ich damals niemanden für dieses Projekt gewinnen. Und dann habe ich das erst einmal so ein bisschen ad acta gelegt.

Wieso wollten sich die Frauen denn nicht fotografieren lassen?

Die einen fanden sich nicht schön genug, andere fühlten sich zu alt, wieder andere sagten: „Ich würde mich seltsam fühlen, wenn ich mich verkleide.“

Und dann?

Probierte ich zunächst mit der KI rum und kombinierte das Ganze nochmals mit Photoshop. Aus Spaß habe ich die Bilder dann später auf meinen Instagram-Account gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich vielleicht 2000 Follower, über Nacht ging der Account dann aber durch die Decke. Ich konnte das erst gar nicht glauben und weiß noch, wie ich zu meinen Töchtern sagte: „Ich glaube, jemand hat meinen Account gehackt.“ Die vielen positiven Reaktionen ermutigten mich, das Ganze dann noch einmal als richtiges Projekt zu etablieren.

Ich bekam damals so zwischen 300 und 400 Nachrichten pro Tag.“

Wie hast du die Frauen gefunden? Wie bist du vorgegangen?

Zunächst einmal ganz blauäugig. Ich startete auf Instagram einen Aufruf und schrieb sinngemäß: „Das hier ist jetzt KI. Wer aber Lust hat, dass wir das im realen Leben umsetzen, der möge sich bitte bei mir melden.“ Ich hatte dabei aber nicht bedacht, dass mir die Frauen ja wirklich international folgen. Da kamen aus Südamerika, aus Nordamerika, aus Italien und sonst woher Anfragen. Aber das konnte ich weder finanziell noch zeitlich leisten. Und so musste ich noch einmal umstrukturieren – und habe das Vorhaben in einen kleinen Contest umgewandelt, bei dem Frauen, egal von woher, quasi die Collage mit ihrem eigenen Foto gewinnen konnten.

Wie waren die Reaktionen?

Ich bekam zum Teil ganze Lebensgeschichten geschickt und auch Dankesbriefe, in denen die Frauen schrieben, die Bilder würden Hoffnung machen und „Ich habe jetzt richtig Lust darauf, alt zu werden.“ Ich bekam damals so zwischen 300 und 400 Nachrichten pro Tag; tatsächlich ging es Tag und Nacht nur noch um dieses eine Thema. Nach diesem kleinen Wettbewerb habe ich dann gesagt, ich würde das Ganze nun gern als richtiges Fotoshooting machen und startete mit der Journalistin Ulla Wohlgeschaffen nochmals einen Aufruf: „Wenn ihr in der Nähe von München wohnt, und Lust auf das Projekt habt, meldet euch bitte.“

Mir war wichtig, dass die Frauen nicht operiert sind, also Schönheitsoperationen hatten.

Nach welchen Kriterien hast du die Frauen ausgesucht?

Die zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten mussten passen, und natürlich auch die Offenheit. Äußerlichkeiten spielten überhaupt keine Rolle, weil bei dem Projekt sollte ja deutlich werden, dass es ganz egal ist, wie schön, wie groß oder klein oder dick oder dünn jemand ist. Wichtig war mir allerdings, dass die Frauen nicht operiert sind, also Schönheitsoperationen hatten oder dass die Frauen nicht schon selbst irgendwie als Influencer arbeiten, die also außerhalb dessen sind, was eine normale Frau in dem Alter lebt. Zum einen, weil ich ein realistisches Spektrum haben wollte und zum anderen wollte ich nicht die noch hypen, die sowieso schon für etwas bewundert werden.

 

Bei dem Projekt sollte deutlich werden, dass es ganz egal ist, wie schön, wie groß oder klein oder dick oder dünn jemand ist.

Fotos: Susanne Krauss

Wie haben die Frauen sich erklärt; warum wollten sie mitmachen? Was waren die Beweggründe?

Es war beispielsweise eine dabei, die erzählte, wie sie es als Kind ganz oft erlebt hatte, dass sie übergriffig fotografiert worden ist. Nicht im sexuellen Sinne, sondern einfach, dass man ihr immer Anweisungen erteilt hatte, wie sie zu sitzen, zu schauen oder zu lachen hat. Das fand sie so schrecklich, dass sie beschloss, sich nie mehr fotografieren zu lassen. Von ihr gibt es tatsächlich keine Bilder im Erwachsenenalter. Sie sagte, „ich möchte es  jetzt doch noch einmal versuchen, bevor ich ganz alt bin.“

Wie lief das Shooting ab? 

Mir war wichtig, dass die Frauen sich alles wünschen durften. Also von den Kostümen bis zum Setting, sie waren keinerlei Zwang unterworfen, auch nicht, sich in irgendeine Pose zu werfen oder einen Gesichtsausdruck anzunehmen, den sie nicht wollen. Ich glaube, es macht großen Sinn, die Leute zu ermutigen, einfach so zu sein, wie sie sind. Wir haben immer viel geredet und versucht herauszufinden, was die Schwerpunkte sind. Bei den Kostümen konnten sie zwischen einer großen Auswahl entscheiden, auch teilweise virtuell, verbunden mit der Frage: Möchtest du lieber eine edle Supergranny sein oder eine Wilde?

Und für was haben sie sich entschieden?

Die Frau etwa, von der ich eben gesprochen hatte, die wollte beispielsweise bunte Haare, sie wollte edel aussehen. Eine andere sagte, sie habe es satt, immer freundlich zu lächeln. Sie möchte ein Bild von sich, wo sie kämpferisch und fast schon aggressiv rüberkommt, weil sie das Gefühl hat, unsichtbar zu sein, nicht mehr wahrgenommen zu werden. Wenn sie etwa über die Straße geht, dann halten die  Autos nicht. Es gibt wirklich Untersuchungen darüber, dass zum Beispiel Frauen und auch Männer mit grauen Haaren tatsächlich auf der Straße nicht mehr wahrgenommen werden. Aber nicht, weil man sie bewusst übersieht, sondern weil grau eine so unauffällige Farbe ist, dass man damit praktisch aus dem Bewusstsein rutscht. 

Sie sagt, sie fühle sich richtig toll. Dass sie im Alter noch den Mut hatte, ihre Träume zu verwirklichen

Im Ausstellungskatalog findet sich zu den Fotos der Frauen auch jeweils ein kurzer Abriss ihres Lebens. 

Ja, meine meine Mitstreiterin Ulla Wohlgeschaffen hatte die Frauen nochmal extra nach den Shootings interviewt. Und zum Teil wurden dann Schicksale öffentlich, mit denen ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

Nämlich?

Eine zum Beispiel hatte  ganz klassisch mit ihrem Mann in einem Reihenhäuschen gelebt. Der Mann war beruflich immer viel unterwegs  und sie hatte in der Zwischenzeit den Haushalt und die Kinder besorgt. Als ihr Mann später in Rente ging, wollte sie auch endlich einmal verreisen, ihr Mann aber meinte: „Nee, ich war schon so viel unterwegs, das ist mir zu viel.“ Sie suchte sich dann einen Nebenjob und sparte das Geld. Sie hat dann wirklich noch große Reisen gemacht. Im alten Kinderzimmer hängen bis heute ihre Reisefotos. Immer, wenn ihr danach ist, setzt sie sich in dieses Zimmer und schaut sich ihre Bilder an. Sie sagt, sie fühle sich richtig toll. Dass sie im Alter noch den Mut hatte, ihre Träume zu verwirklichen. Und das finde ich großartig. Davon gibt es viel solcher Geschichten.

Warum ausschließlich Frauen über 70?

Tatsächlich hatte ich Anfragen von Frauen ab den Wechseljahren. Aber für das Projekt war diese Altersgruppe noch nicht passend. Wenn diese Frauen verkleidet sind, sieht man den Unterschied nicht, sie sehen noch zu jung aus. Und ich wollte bewusst das visuell so hinbekommen, dass das auf den ersten Blick passt.

Alle Grannies, die mir begegnet sind, die haben mir sehr viel Mut gemacht.

Wäre solch ein Projekt auch mit Männern denkbar? 

Speziell bei diesem Projekt schloss sich das aus, weil das ja eine Persiflage auf die männlichen Superhelden ist. Aber es stimmt. Diese Generation der so ein bisschen vergessenen Männer hätte ich auch sehr gerne einmal in einem Projekt, weil – wie es oft im Leben ist – die Sensiblen, Zartbesaiteten geraten schneller aus der Gesellschaft als die, die so mit Ellenbogen vorne stehen. Und ich glaube, da gibt es wirklich wunderbare Männer, die eine Plattform kriegen sollten, wo man sie auch noch mal sozusagen ins Scheinwerferlicht rückt. Niemand von uns will unsichtbar sein. Allen Menschen geht es  ja von Geburt an so, dass sie Wertschätzung erfahren wollen oder ein bisschen Anerkennung. Gerade in der heutigen Gesellschaft, wo sich alles so schnell dreht und eben auf Portalen wie Instagram, auf denen Leute sozusagen laut um Aufmerksamkeit schreien, gehen weniger extrovertierte Menschen unter. 

Was ist Bleibendes für dich aus der Arbeit mit den Grannies geblieben?

Alle Grannies, die mir begegnet sind, die haben mir sehr viel Mut gemacht. Da war zum Beispiel eine dabei, sie ist heute 82 und arbeitet immer noch als Coachin und Beraterin. Und wenn ich sie erlebe oder treffe, dann weiß ich, wie ich alt werden möchte. Ich finde ja generell, dass es total Sinn macht, sich viel mit Menschen, die älter sind als man selbst, zu beschäftigen. Weil sie in vielfacher Hinsicht ein Vorbild sein können. Die fürchten andere Dinge, weil sie schon viel erlebt haben – oder schätzen deswegen auch andere Dinge, weil sie ihre Erfahrungen gemacht haben.

Wie möchtest du alt werden?

Natürlich wie alle: Möglichst gesund. Möglichst frei. In einer Demokratie lebend. Und: Glückliche Enkelkinder erleben zu dürfen. Ich habe zwar bisher nur eins. Aber ich muss sagen, das flasht mich total, das habe ich nicht für möglich gehalten. Bei Enkelkindern,  ich habe das neulich mal gelesen, bekommst du praktisch das Glück, das du mit deinen eigenen Kindern erleben durftest, noch mal in Leichtigkeit zurück. Zugleich aber ist ein Leben natürlich von Anfang bis Ende nicht nur  fröhlich, da kommen immer auch blöde Phasen und ich denke, das man in den guten Zeiten dafür Kraft schöpft. Einer meiner Lieblingssätze lautet: Alles geht vorüber. Das Gute. Aber eben auch das Schlechte.

Mehr Informationen:
https://www.susanne-krauss.de

Es gibt wirklich Untersuchungen darüber, dass zum Beispiel Frauen und auch Männer mit grauen Haaren tatsächlich auf der Straße nicht mehr wahrgenommen werden.

Nicole Kraß, 53

Nicole Kraß, 53

Journalistin

Nicole Kraß (53)

 

„Ich bin der MS dankbar. Ohne sie würde ich das alles nicht machen“

Die Journalistin Nicole Kraß war 46 Jahre alt, als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Von einem Tag zum anderen stand ihr Leben Kopf. Das Tauchen half ihr, neues Selbstvertrauen zu finden. Sie gründete „Tauchen mit Handicap“, eine Plattform, auf der sie über ihre Erfahrungen bloggt – und auf der sie Informationen zum Tauchen für Menschen mit Behinderungen bündelt. Im Interview spricht sie über ihre Ängste und Träume  – und wie die MS ihre Perspektive auf das Leben veränderte.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Kannst du dich an den Tag der Diagnose erinnern?

Oh ja, natürlich. Diesen Tag vergisst man nie. Ich hatte zuvor eigentlich eine relativ unspektakuläre Knieoperation. Mein Knie war über Monate hinweg dick gewesen und keiner wusste genau, warum. Dann wurde da einfach mal reingeschaut mithilfe einer Arthroskopie. Als ich dann aber wieder erwachte  aus der Narkose, kribbelten meine Arme, so, als wären sie eingeschlafen. Zuerst dachte ich, das wäre von der Narkose. Das ist dann aber irgendwie nicht weggegangen.

Und dann?

Wurde erst ein Karpaltunnelsyndrom vermutet. Ich sollte das vom Neurologen abklären lassen, und bis der Termin dann endlich ran war, hatte ich bereits ganz andere Symptome. Plötzlich schlief mir der ganze Arm ein, und ständig liefen mir kalte Schauer über den Rücken, so, als würde ich mich vor etwas gruseln. Und bei einem Spaziergang durchzuckte es plötzlich meinen ganzen Körper, es fühlte sich an wie ein Stromschlag. Das ist danach dann auch mehrfach passiert, immer, wenn ich etwa den Kopf ein bisschen nach unten senkte, ob beim Essen oder beim Schuhebinden. Das war schon sehr beängstigend. Karpaltunnel konnte der Neurologe schnell ausschließen. Aber dann stand der Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule im Raum. Ich sollte ins MRT und dann zum Neurochirurgen.

Wie ging es weiter?

Mit dem MRT-Ergebnis bin ich zum Neurochirurgen. Und der schickte mich sehr schnell wieder zurück zum Neurologen. Der hatte nämlich Flecken in der Halswirbelsäule gesehen, die da eigentlich nicht hingehören. Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. MRT vom Kopf und Lumbalpunktion. Und am Tag des Kopf-MRT bin ich dann auch mit den schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens aufgewacht. Da war mir schon klar, irgendetwas stimmt nicht. Und auf dem Rückweg vom MRT rief mich, ich saß noch im Auto, ein sehr besorgter Radiologe an. Der sagte, sie müssen ins Krankenhaus. Sie haben eine akute Hirnentzündung und brauchen Kortison.

Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus. Das muss ja ein Vermögen kosten.

Wie hast du reagiert in diesem Augenblick?

Irgendwie habe ich funktioniert. Ich habe einfach das getan, wovon ich dachte, das muss ich jetzt tun, da sind auch noch keine Tränen geflossen. Ich hatte fünf Minuten Zeit, um mit Freunden zu telefonieren und zu klären, ob meine beiden Kinder bei ihnen übernachten können. Mein Mann war zu der Zeit viel im Ausland unterwegs. Den konnte ich nicht einmal erreichen, da er im Flieger auf der Rückreise von Asien war. Drei oder vier Tage später kam dann die finale Diagnose. Das war im Mai 2017. Und ein ganz anderes Leben für mich begann.

Wie geht man um mit solch einer Diagnose?

Also im Krankenhaus selbst war das alles noch gar nicht wirklich greifbar. Ich bewegte mich da in irgendeinem seltsamen Schwebezustand, ich wollte das alles gar nicht wahrhaben. Mir ging eher ganz Banales durch den Kopf. So etwas wie: Mein Auto steht hier im Krankenhaus im Parkhaus; das muss ja ein Vermögen kosten.

War dir MS damals schon ein Begriff?

MS war mir da schon ein Begriff, weil ich es aus dem Bekanntenkreis kannte. Aber für mich war das zunächst natürlich ein Schlag ins Gesicht. Zwar kann man die Symptome heute  besser behandeln und man schaut, dass die Krankheit nicht so schnell fortschreitet. Trotzdem ist es eine Krankheit, die auch im Hintergrund aktiv ist. Ich bin die erste Zeit wie auf Watte gelaufen. Und zwar im wahrsten Sinne, weil sich die Symptome durch meinen ganzen Körper zogen. Ich lief ganz wackelig und es fühlte sich an, als würde ich den Boden gar nicht mehr so richtig berühren. Und da es sich nicht besserte, bekam ich wieder sehr viel Cortison; 2000 Milligramm Cortison pro Tag im Körper sind wirklich eine Hausnummer. Ich hatte Angst, dass da bald der Rollstuhl steht. Und ich fragte mich: Wie soll es jetzt weitergehen? Auch mit den Kindern? Die sind ja zu dem Zeitpunkt auch noch so klein gewesen.

Wie alt warst du damals?

46 Jahre. Was auch schon außergewöhnlich war, denn man sagt, MS tritt so zwischen 20 und 40 auf. Aber da hatte sich die MS bei mir gleich schon von ihrer gemeinen Seite gezeigt. Die Krankheit hat 1000 Gesichter und du weißt nie, was kommt.

Der Arzt sagt: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.

Was ist für dich heute ein guter Tag und was ein schlechter?

Ein guter Tag ist, wenn ich nicht daran denke. Wenn ich unbeschwert fröhlich meine Dinge tun kann. Und ein schlechter Tag ist, wenn ich aufwache und irgendetwas nicht stimmt. Wenn ich plötzlich einen Schwindel habe. Wenn wieder etwas Neues dazukommt und ich nicht weiß, ist es jetzt die MS oder ist es etwas anderes. Immer schwingt die Sorge mit, die MS könnte weiter voranschreiten.

Wie hat die Krankheit die Perspektive auf dein Leben verändert? Oder: Hat sie es überhaupt?

Für mich war sie tatsächlich auch eine Initialzündung. Ich hatte zwar schon 1995 meinen Tauchschein gemacht, war damals hier und da tauchen, sogar im Great Barrier Reef, noch vor der ersten großen Korallenbleiche. Aber dann kam irgendwie das Leben dazwischen. Studium. Wir haben Kinder bekommen. Ein Haus gebaut. Das Tauchen ist immer weiter in den Hintergrund gerückt. 2017 wollte ich damit eigentlich wieder anfangen. Der Plan war gewesen, mit einer Freundin nach Bali zu fliegen. Aber dann kam die Diagnose, und als ich beim Arzt saß – und der aufzählte, was alles in nächster Zeit auf mich zurollen würde, erzählte ich ihm von meinen Plänen – und er sagte etwas, was ich nie vergessen werde: „Lassen Sie sich nicht einschränken. Machen Sie, was Ihnen gut tut.“ Und das habe ich dann auch gemacht, das war der Anfang.

Eine Art Trotzreaktion, im positiven Sinn?

Ich habe einfach gemerkt, ich brauche das Tauchen für mich. Es ist für mich die allerbeste Therapie. Beim Tauchen sind alle Gedanken weg und auch die Ängste und die Einschränkungen. Irgendwie geht es mir unter Wasser viel besser, da fühle ich mich freier, und deswegen baue ich das jetzt auch immer mehr aus – solange es noch geht.

Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen!

Was findest du beim Tauchen?

Also mal abgesehen davon, dass es natürlich schön ist, die Unterwasserwelt zu sehen. Aber selbst, wenn ich hier im Verein beim Tauchen bin, genieße ich dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, das gibt es sonst nur im All oder im freien Fall. Es ist so herrlich. Man macht eine kleine Bewegung und gleitet ganz leicht und frei durchs Wasser. Ein tolles Gefühl.

Die MS steht dem nicht im Weg?

MS an sich ist keine Kontraindikation, sprich, man kann auch mit MS tauchen. Nicht im akuten Schub, das ist ein NoGo.

Will man vielleicht auch nicht?

Genau. Will man nicht. Und sollte man nicht. Das wäre gefährlich nicht nur für einen selbst, sondern auch für den Partner, mit dem man taucht. Aber auch Betroffene, die nicht laufen können oder andere Einschränkungen oder Spastiken haben, denen tut es eher gut, unter Wasser zu sein, denn unter Wasser ist man einfach leichter und der Wasserdruck sorgt tatsächlich auch dafür, dass zum Beispiel Spastiken ein bisschen mehr ausgeglichen sind.

Später hast Du dann Tauchen mit Handicap gegründet – was war der Auslöser?

Ich hatte mich 2018 für eine Tauchsafari auf dem Roten Meer angemeldet, und am Flughafen sah ich auf dem Weg dorthin eine andere Gruppe von Leuten mit Tauchgepäck, unter ihnen einen Mann im Rollstuhl. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Äh, wieso will der denn in den Tauchurlaub, wie will der denn tauchen? Diesen Mann habe ich später auf einem anderen Boot wieder gesehen und beobachtet, wie er sich für einen Tauchgang fertig machte und ins Beiboot hievte. In dem Moment wurde mir klar: Was der kann, das kann ich auch, selbst, wenn ich durch meine MS-Erkrankung nicht mehr laufen kann. Ich stand auf dem Sonnendeck und hab mir gesagt: Yes, you can; du kannst das alles schaffen! Nach der Reise habe ich dann nach Infos über das Tauchen mit Behinderung gesucht. Ich habe recherchiert und schnell festgestellt, dass es wenig dazu gibt. Und da kam dann die Idee mit dem Blog, und so kam der Stein ins Rollen. Das Ganze ist dann immer mehr gewachsen. Inzwischen füttere ich regelmäßig meinen Blog und bin in unserem Tauchclub zuständig für das Tauchen mit Handicap.

Mit was für Behinderungen kommen die Menschen zu euch?

Wir hatten einen Rollifahrer mit Spina Bifida. Er konnte als Kind zwar noch laufen, verlor aber nach und nach immer mehr das Gefühl in den Beinen. Und wir hatten einen anderen Rollifahrer mit Querschnitt nach einem Unfall, außerdem andere MS-Erkrankte. Dann hatten wir eine Frau mit Dystonie zum Schnuppertauchen. Dystonie ist auch so eine gemeine Krankheit, die zu starken Muskelverkrampfungen führen kann. Mit ihr waren wir erst einmal nur im warmen flachen Wasser, um zu sehen, ob und wie sie sich unter Wasser fortbewegen kann. Und wir sind mit einem Doppelunterschenkelamputierten getaucht. Der war so begeistert, dass er gleich seinen Tauchschein machte, auch den für fortgeschrittene Taucher.

Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt.

Hast du eigentlich den Mann mit dem Rollstuhl irgendwie mal sprechen können? Er war ja im Prinzip derjenige, der dich inspirierte?

Nein, dazu gab es keine Gelegenheit. Und ich hatte ja bei der ersten Begegnung am Flughafen auch selbst diese sonderbaren Gedanken. Aber jetzt bin ich diejenige, die sagt: Natürlich kannst du tauchen, auch wenn du im Rollstuhl sitzt, und natürlich kannst du tauchen, auch wenn du blind bist. Denn man taucht ja nicht unbedingt nur, um schöne bunte Fische zu sehen. Da gibt es ganz viele andere Beweggründe, etwa dieses wunderbare Schweben im Wasser. Tauchen, das ist so etwas Inklusives und Wunderbares. Ich will jetzt einfach die Vorurteile aus den Köpfen der Menschen herausbekommen, so, wie ich sie auch hatte.

Also Verständnis vermitteln?

Ich sehe mich tatsächlich in einer Art Mittlerrolle. Und ich bekomme inzwischen wirklich viele solcher Anfragen. Eine junge Frau mit einem gelähmten Arm etwa wollte wissen, ob sie auch tauchen könne und worauf sie achten müsse. Ich weiß heute: Es gibt immer für alles Lösungen, es braucht oft nur ein bisschen Kreativität. Und vielleicht etwas mehr Zeit und Einfühlungsvermögen. Mir ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es die Möglichkeit überhaupt gibt, mit einer Behinderung zu tauchen. Deswegen habe ich letztes Jahr auch meinen Divemaster gemacht, das ist quasi die erste professionelle Stufe, um später selbst Taucher ausbilden zu können. Ich habe es Divemaster 50plus genannt, weil, ich war da ja schon über 50. Das Schöne am Tauchen ist, dass das Alter überhaupt keine Rolle spielt. Tauchen kann man nämlich auch mit 80 noch lernen – eine gewisse Fitness vorausgesetzt.

Zurück zur MS. Was bedeutet dir die Krankheit?

Es war der 22. Mai, an dem die Diagnose endgültig fiel. Das war nicht nur der Geburtstag meiner Oma, sondern für mich war das auch ein Wendepunkt. Und tatsächlich bin ich der MS irgendwie dankbar, dass sie in mein Leben gekommen ist. Das mag blöd klingen. Aber sie hat mich eingebremst in meinem Leben und in dem Denken, dass alles selbstverständlich ist. Ohne die MS würde ich das alles heute nicht machen. Und genau das möchte ich weitergeben. Anderen Mut machen, selbst auszuprobieren, ob das Tauchen ihnen auch guttun könnte. Mir persönlich gibt das alles so viel. Mit den Menschen zu reden, ihr Dankeschön, wenn wir uns hinterher in die Arme fallen. Das hätte ich alles tatsächlich ohne diese Erkrankung wahrscheinlich so nicht erlebt. Paradox, oder?

Eben nicht. Natürlich kann man sich ins stille Kämmerlein zurückziehen, das ist die eine Option. Oder aber man wählt den Weg von dem Mann im Rollstuhl.

Genau. Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache. Ich sage immer: Wenn ich das geschafft habe, dann schaffst du das auch.

Mehr Infos unter:
www.tauchen-mit-handicap.de 

Natürlich zieht man sich auch immer wieder zurück und ist mal traurig, das gehört dazu. Aber man muss halt den Schlüssel wieder umdrehen können und sagen, so, ich gehe da jetzt raus. Und wenn man dann sogar noch etwas Gutes daraus machen kann und andere motivieren, dann ist das eine feine Sache.