Ellen Matzdorf, 60

Ellen Matzdorf, 60

Bestatterin/Hebamme

Ellen Matzdorf, 60

 

„Das Leben ist zu kurz für später“

 

Ellen Matzdorf dürfte eine der wenigen sein, die als Hebamme und Bestatterin zugleich arbeitet, wahrscheinlich ist sie zumindest in Deutschland die einzige. In ihrer Arbeit sieht sie keinen Widerspruch, im Gegenteil, sie sagt: „Ich habe ja auch immer gedacht, ich kann das nicht parallel machen. Aber das war nur in meiner Vorstellung etwas Ungewöhnliches. Sterben ist die normale Schlussfolgerung auf das Leben.“ Gerade ist ihr Buch „Vom ersten bis zum letzten Atemzug“ erschienen, ein sensibles Plädoyer für selbstbestimmtes Leben und Sterben. Ein Gespräch über die Einsamkeit des letzten Augenblicks, den Mut, Träume zu verwirklichen und über die Dinge, auf die es am Ende wirklich ankommt.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Wie reagieren die Menschen darauf, dass Sie als Hebamme und Bestatterin zugleich arbeiten?

Wenn ich irgendwo erzähle, ich bin Hebamme, dann sprechen die Frauen sofort über ihre Geburtserlebnisse. Wenn ich dann aber sage, ich arbeite auch als Bestatterin, dann ist erstmal Stille, dann sind  alle betroffen. Sterben wird heute noch immer nicht als normale Schlussfolgerung auf das Leben anerkannt, Verlust will niemand. Ich habe ja auch immer gedacht, ich kann das nicht parallel machen. Aber das war nur in meiner Vorstellung etwas Ungewöhnliches.

Der Mensch verdrängt lieber, er möchte sich mit dem eigenen Ende nicht auseinandersetzen?

Genau. Auch, weil es unbekannt ist. Wir können ja niemanden fragen, keiner kann uns erzählen, wie es ist, wenn man tot ist. Und dann kommen die ganzen Vorstellungen. Für die einen ist der Tod nur der Übergang in das nächste Leben. Für den anderen ist danach gar nichts mehr. Und wenn da gar nichts mehr ist, warum soll ich mich damit beschäftigen, mich womöglich auch noch darauf vorbereiten? Hinzu kommt: Sterben und Tod, das ist ja auch nochmal ein Unterschied. Sterben ist nur der Weg in den Tod. Und Sterben heute ist nicht so leicht.  Es ist häufig mit Schmerzen verbunden, es ist mit Panik verbunden, mit medizinischem Einsatz. Heute sterben so viele Menschen allein. Wenn man schwer krank ist, darf man noch ins Hospiz, wo man vielleicht dieses Umsorgen hat wie früher in der Großfamilie oder in der Familie.  Aber ansonsten geht man heute zum Sterben ins Krankenhaus und da weiß man ja, wie die Strukturen sind. Da haben alle keine Zeit mehr und sind gestresst. 

Wie gehen Sie mit der eigenen Angst um?

Ich habe keine. Im Moment zumindest bin ich fest davon überzeugt,  dass das schon gelingen wird, dass das schon klappen wird mit dem Sterben. Ich stelle mir auch nicht vor, dass ich dahinsieche oder leide. Und wenn es dann irgendwann so kommt, dann ist es eben so, da muss ich den Umgang mit finden, und das wird auch gelingen.

Es gibt diesen magischen Moment der Geburt, – und in der Sterbebegleitung gibt es den magischen Moment des Sterbens. Das empfinde ich beides als sehr außergewöhnlich oder sehr einzigartige Momente.

Können Sie sich entsinnen, wann Sie das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wurden?

Als unser Hund überfahren worden ist, da war ich – glaube ich – sieben oder acht Jahre alt. Der hat dann aber doch noch gelebt, und er hat auch überlebt. Das war so ein Fastmoment, da kann ich mich gut daran erinnern. Meine Mutter und ihr damaliger Freund hatten den Hund einfach in die Küche gelegt, um ihn dann irgendwo später zu entsorgen. Sie verboten uns zwar, in die Küche zu gehen, aber wir haben uns doch reingeschlichen, es zog uns natürlich zu unserem Hund. Und dann haben wir gemerkt, dass er noch lebt. Die Alten sind dann auch endlich zum Tierarzt gefahren und haben sich gekümmert. Das war so die erste Situation. Und ich war 15 oder 16 Jahre alt, als meine Oma gestorben ist. Sie war sehr krank zum Schluss, und ich musste in die Ferien, das weiß ich noch. Sie sagte zu mir beim Abschied, dass sie nicht mehr will, sie wiederholte das mehrfach und ich dachte damals, ach komm‘. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass jemand nicht mehr leben will. Und dann bin ich unterwegs gewesen, und als ich wiederkam, war sie weg. Ich war ziemlich entsetzt, dass man mir nicht Bescheid gegeben hatte. Meine Schwiegermutter wieder lag zwei Tage mit schwerem Schlaganfall in ihrer Wohnung. Sie hatte sich zwar so ein Netz aufgebaut zusammen mit ihrer Schwester, bei dem es auch darum ging,  einmal am Tag zu telefonieren und wenn der andere nicht reagiert – so der Plan – , dann müsste man schnell hinfahren und gucken, was da los ist. Und dann reagierte meine Schwiegermutter irgendwann tatsächlich nicht auf so einen Anruf und die Tante ist trotzdem nicht losgelaufen, weil sie dachte:  „Wird schon nix sein.“ Und so lag meine Schwiegermutter zwei Tage in ihrer Wohnung, das muss ganz schlimm für sie gewesen sein, weil sie war ja eben noch nicht tot, sondern lag da und niemand kam, um ihr zu helfen. Danach hatte sie noch zwei, drei Schlaganfälle, und als es dann mit ihr vorbei war, empfand ich das als Erlösung.

Heute wäre das vielleicht anders. Es gibt es doch für alles eine App. Gibt es nicht eine, die drückt man und irgendwo im virtuellen Raum weiß dann jemand Bescheid, dass man noch lebt?

Schöner wäre es ja, wenn man einen Freundeskreis hätte oder Ähnliches, der einen auffängt. Es geht ja gar nicht darum, dass man sich Arbeit abnimmt, sondern einfach nur, dass man beieinander ist. Ich kenne eine Gruppe, die hat sich zusammen in einem Friedwald einen Baum gekauft. Irgendwann werden die da alle zusammen nacheinander bestattet. Da sind auch einige Alleinstehende dabei, aber auch einige Paare, die halten Kontakt, die kümmern sich umeinander. Ähnlich war ja mal der Gedanke der Mehrgenerationenshäuser. So etwas finde ich ganz großartig, und es geht ja auch, ohne dass man zusammenwohnt.

Was für Fähigkeiten braucht es, um als Bestatterin und als Hebamme zu arbeiten. Gibt es Überschneidungen?

Ich würde es gar nicht Fähigkeiten nennen. Ich glaube, es reicht, wenn man sich klar macht, dass Leben und Sterben nahe beieinander liegen. Also mir war immer klar, dass wir irgendwann sterben werden, und der eine leider etwas eher. Für mich war das nie ein Thema, da wegzuschauen oder davor wegzulaufen, weil ich bestimmte Dinge, die ich nicht abändern kann, gut hinnehme. Zum Glück habe ich aber auch noch nie den Tod eines eigenen Kindes erleben müssen, dann würde ich das sicher anders sehen. Andererseits: Es ist, wie es ist, und ich kann es nicht verhindern. Und wenn ich es nicht verhindern kann, dann kann ich  wenigstens versuchen, möglichst gut zu begleiten. Ich kann für die Menschen da sein und sie unterstützen, so gut es eben geht.

Was ist Ihnen emotional näher? Die Geburt oder der Tod?

Ich empfinde das als gleichwertig. Es gibt diesen magischen Moment der Geburt, – und in der Sterbebegleitung gibt es den magischen Moment des Sterbens. Das empfinde ich beides als sehr außergewöhnlich oder sehr einzigartige Momente. Allerdings fühle ich mich heute in der Begleitung von Verstorbenen oder einer Sterbebegleitung oder auch in der Begleitung von Beerdigung und Beisetzung tatsächlich wohler, weil viel weniger Druck da ist. Der ist zwar auch da, aber anders. Die Beerdigung muss klappen. Die Musik muss im richtigen Moment abgespielt werden. Die Trauerkarten müssen pünktlich fertig sein. Aber letztendlich ist das alles weniger anstrengend als eine Geburtsbegleitung, die auch mal vier fünf Tage und Nächte dauern kann. Da muss immer alles ganz schnell gehen. Wenn jemand verstorben ist, versuchen wir immer, den Druck rauszunehmen. Weil die Zeit vom Moment des Versterbens bis zur Beisetzung ist ja die einzige, die man noch miteinander hat, und da ist es auch gut, das langsam zu machen, nicht ruckzuck schnell den Verstorbenen unter die Erde zu bringen. Es ist ja auch ein Stück Trauerarbeit oder Bewältigung, sich auf die Verabschiedung gut vorzubereiten.

Wie findet man die richtigen Worte?

Tatsächlich werden bei einer Sterbebegleitung die Worte immer weniger, zumindest war es so bei denen, die ich bisher erlebt habe. Da ist es so gewesen, dass, solange es noch ging, natürlich noch viel gesprochen wurde und auch nochmal Fragen gestellt wurden. Das fand ich auch immer sehr wichtig. Und nachher ging es nur noch ums Dabeisein, ums da sein, um in der Nähe zu sein, um dem Menschen, der stirbt, zu vermitteln, du bist nicht alleine, wir versuchen so gut wie möglich, deine Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn eine Geburt gut läuft und die Frau bei sich ist, dann lässt man sie ja auch am besten in Ruhe und signalisiert nur: ich bin da, ich kann zupacken, wenn es nötig ist, aber du schaffst es alleine. Und so ist es beim Sterben auch. Wir müssen da nicht viel tun, nur signalisieren. Manchmal wollen die Menschen aber alleine sein und sterben einfach nicht, sondern machen das eben erst in dem Moment, in dem man vielleicht gerade den Raum verlassen hat.

Ist das das Wichtigste bei Ihrer Arbeit? Quasi die Schulter anbieten? 

Genau. Eigentlich auf allen Ebenen. Also wir sind einerseits dazu da, die ganzen administrativen Dinge zu erledigen. Das fängt dann bei den Traueranzeigen an und geht bis zum Beantragen der Sterbeurkunde. Aber oft geht es auch einfach nur ums da sein, wenn die Angehörigen das Gefühl haben, sie müssen nochmal reden. Manchmal sind das ganz kleine Anlässe und sie sagen: „Also ich wollte noch mal eben hören, ob die Sterbeurkunde schon da ist.“ Die wissen aber, dass sie noch lange nicht da sein kann. Aber sie rufen dennoch an, weil es gar nicht um die Sterbeurkunde geht, sondern darum, das Herz auszuschütten. Und dann unterhält man sich und spendet Trost oder hört einfach zu.

Dann ist plötzlich wieder ein Tag vorbei, an dem ich ausschließlich gearbeitet habe.

Hat Ihre Arbeit mit dem Tod Ihre Sichtweise auf das Leben verändert?

Mir ist bewusst geworden, wie schnell es gehen kann, dass man nicht mehr zufrieden und glücklich lebt, wie schnell es gehen kann, dass das Leben vorbei ist. Es sind ja eben nicht immer nur die langen Krebserkrankungen oder andere Krankheiten, die zum Tode führen oder weil die Menschen ein hohes Alter erreicht haben, sondern auch die anderen Momente, in denen man eben vielleicht noch mit dem Bruder telefonierte und zwei Minuten später ist er tot. Ich lebe heute bewusster, würde ich sagen. Ich nehme nicht mehr jede Herausforderung an in Form von Streitigkeiten oder wenn ich merke, das ist jetzt überflüssig, sich über so etwas Gedanken zu machen. Heute ist es für mich nicht mehr wichtig, ob jemand an der Kasse vordrängelt. Oder ob die Kellnerin  im Restaurant mich eine Minute länger ignoriert, weil sie gerade selbst im Stress ist. Da habe ich einen anderen Blick bekommen. Da warte ich eben einen Moment und gucke in der Gegend herum. Ist ja auch schön. Und wenn ich spüre, ich brauche eine Pause, nehme ich sie mir heute konsequenter.

Sie lassen sich nicht mehr so schnell aus der Ruhe bringen?

Ich begleite eine alte Dame in Bremen. 2018 haben wir ihren Mann bestattet. Und wir sind irgendwie so ein bisschen aneinander hängen geblieben. Ich besuche sie regelmäßig und kümmere mich um alle möglichen Dinge für sie. Und sie hat irgendwann mal gesagt: „Das Leben ist zu kurz für später.“ Und das ist jetzt immer unser Slogan. Wir schieben nichts auf und gehen ins Cafe oder in die Stadt, weil wir Spaß daran haben.

Welche Dinge sind es, die die Menschen bereuen?

Häufig sind es die zwischenmenschlichen Dinge. Sich nicht getrennt zu haben, in einer Beziehung geblieben zu sein, weil man sie mal begonnen hatte oder vielleicht einen finanziellen Vorteil davon hatte; das eigene Leben nicht gelebt zu haben. Mit einer Dame habe ich gerade eine Vorsorge gemacht, sie ist Mitte, Ende 70, wir sehen uns ab und zu, vor Kurzem bekam sie eine Krebsdiagnose. Und sie sagt auch ganz klar, dass sie es ganz schlimm findet, nie Stellung bezogen zu haben, nie irgendwie mal mutig und stark die eigenen Dinge in die Hand genommen zu haben. Meine Mutter hatte es mit dem Sterben auch nicht ganz so leicht. Und sie hatte immer Schwierigkeiten, ihre Kinder zu lieben und uns das zu zeigen. Darüber hat sie am Ende gesprochen. Dass sie sehrwohl alle ihre Kinder geliebt hat, nicht alle gleich, aber alle geliebt. Solche Wörter wären ihr früher nie über die Lippen gekommen. Wenn sie die Chance gehabt hätte, nochmal von vorne anzufangen, meinte sie, würde sie viele Dinge anders machen.

Ist das nicht interessant? Da rennt der Mensch zeitlebens irgendwelchen materiellen Dingen hinterher; am Ende aber geht es um etwas ganz anderes. Insofern haben Sie auch eine tolle Arbeit, weil Sie tagtäglich immer wieder das Wichtigste vor Augen geführt bekommen. Nämlich: Leben! Das muss etwas sehr Befriedigendes haben.

Ja, das ist so. Ich empfinde mich da auch total im Flow. Viele Jahre etwa war ich gar nicht reisefreudig. Ich bin nicht weggefahren, ich war immer gerne zu Hause, bin vielleicht mal an die Küste gefahren für einen Moment. Aber das mache ich jetzt auch anders, ich merke, dass ich los möchte, Leute treffen, unterwegs sein. Weil, wenn ich zu Hause bin, dann bin ich quasi auch im Betrieb, dann arbeite ich. Und dann merke ich manchmal gar nicht, wie die Zeit vergeht. Und dann ist plötzlich wieder ein Tag vorbei, an dem ich ausschließlich gearbeitet habe.

Was ist das Wichtigste im Leben?

Das Wichtigste im Leben sind Kontakte, zur Familie oder eben auch zu Freunden. Zur Familie allerdings nur, wenn es funktioniert. Ansonsten aber mit Menschen in Interaktion treten, zusammenkommen, sich umeinander kümmern, füreinander da sein und dann eben auch mal gucken, ob man immer in jeder Situation so hart miteinander umgehen muss, wie man das eben auch oft zwischen den Menschen so erlebt.

Und praktisch? Wie notwendig ist etwa eine Sterbeversicherung?

Also ich weiß, dass es gut ist, sich einfach damit mal auseinanderzusetzen. Das ist ja auch ein Prozess, sich damit zu befassen oder es für sich selbst aufzuschreiben. Und dann natürlich auch mal zu gucken, wie kann man das finanzieren. Das Drama beginnt ja da, wenn etwa die Mutter gestorben ist und sie hat drei Kinder hinterlassen. Das eine sagt, wir machen eine Seebestattung, das andere sagt, wir machen Erdbestattung und das nächste sagt, nee, sie wollte hier auf den Friedhof zu Papa. Und dann haben wir drei Menschen und drei Möglichkeiten.

Ab welchem Alter sollte man das klären?

Am besten sofort.

Sofort? Also jeder?

Ich halte auch in Schulen Vorträge, auch in der Grundschule. Ich kenne dort einen Lehrer, dessen beiden Kinder ich zur Geburt begleitet hatte. Früher hatte ich dort im Sexualunterricht immer nur erklärt, wie es mit der Geburt geht, wie das Baby im Bauch wächst und so. Und jetzt machen wir das so, dass ich erzähle, wie das Baby im Bauch wächst und wie es geboren wird. Und auch, wie es dann ist, wenn man stirbt.

Und, wie reagieren die Kinder?

Gut, offen und interessiert, neugierig. Und sie erzählen dann, dass der Kater gestorben ist oder der Vogel oder die Oma. Die haben ja noch nicht diese vielen Erfahrungen wie wir, sie sind ja noch sehr unbelastet. Natürlich sind sie traurig, wenn auf einmal die Lieblingsoma nicht mehr da ist, das ist ja klar. Aber wenn man darüber spricht, können sie es noch viel besser akzeptieren, dass für die Oma vielleicht einfach die Zeit gekommen ist. Würde man das immer alles hinter verschlossenen Türen tun, dann entsteht wieder dieses Mysterium und dann wird es immer geheimnisvoll, gefährlich und Angst behaftet bleiben, weil wir das Thema verdrängt haben.

Buch-Tipp

„Vom ersten bis zum letzten Atemzug“
Ellen Matzdorf
ZS – ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Gebunden mit Schutzumschlag
192 Seiten
ISBN 978-3965843486

Mehr Infos hier:
https://stern-bestattungen.de/

 

Sterben heute ist nicht so leicht.  Es ist häufig mit Schmerzen verbunden, es ist mit Panik verbunden, mit medizinischem Einsatz. Heute sterben so viele Menschen allein.

Silvia (57) und Guido Weihermüller (59)

Silvia (57) und Guido Weihermüller (59)

Selbstversorger

Guido & Silvia Weihermüller

 

„Ich habe das Gefühl, dass wir gerade
die sinnhafteste Zeit unseres Lebens haben“

Viele träumen davon, doch den Mut finden nur wenige: Den Alltag, den Trott hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zu gehen. Silvia (57) und Guido Weihermüller (59) haben es getan. Sie haben ihre Karrieren als Filmproduzenten und Filmemacher in Hamburg beendet und sind als Selbstversorger mit Biohof auf die dänische Insel Aero gezogen. Ihr Skript für das neue Leben: Wine- statt Filmmaker! Im Interview sprechen sie darüber, wie sie erste Startschwierigkeiten überwanden, ihre Partnerschaft gestärkt wurde und warum der Neubeginn eine große Bereicherung ist.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Ziemlich mutig, von der Millionenstadt auf eine Insel in ein anderes Land zu ziehen. Wie leicht ist Euch die Entscheidung gefallen? Gäb es Ängste? 

Silvia: Ich glaube, ich habe gar keine Ängste. Ich habe eher Respekt vor all dem, was wir machen. Und so ein Urvertrauen. Wenn Guido und ich beschließen, gemeinsam eine Sache zu machen, dann ziehen wir das auch durch. Ich frage mich dabei immer: Was ist denn das Schlimmste, was dir passieren kann, mal abgesehen vom Thema Gesundheit, also, was hat man wirklich zu verlieren? Ich glaube, dass man eher traurig ist oder sich ärgert, wenn „hätte, hätte“  das Leben bestimmt. Das gibt es bei uns – glaube ich – nicht so viel, sondern stattdessen: Wir haben Ideen, wir prüfen die gemeinsam – und dann machen wir uns auf den Weg. Und wir wissen, dass es Steine gibt, dass wir durch irgendetwas hindurch müssen, dass wir auch etwas aushalten müssen. Und von daher, sage ich mal, hat die große Lust und die Freude auf das Neue alles andere komplett überwogen.

Guido, siehst Du das ähnlich?

Guido: Ja, wir hatten Respekt vor der Aufgabe – aber keine Angst. Jedes Filmprojekt ist ja, wenn man so will, ein Start-up, immer fängt man bei Null an. Aber wir hatten  eine tolle Übergabe vom Vorbesitzer, hatten uns genau alles erklären lassen. Und wir sind im Winter angereist, das heißt, dadurch war nicht sofort super viel zu tun. Wir konnten uns zunächst auf die Renovierung beschränken und die Nachbarn kennenlernen. Schlimm wurde es allerdings für Silvia, als sie im April  zwei Wochen zeitweilig allein war, weil ich in Deutschland ein Projekt zu Ende bringen musste. In der Zwischenzeit ist dann hier alles explodiert, alles war auf einmal grün, überall musste man gleichzeitig etwas machen. Hinzu kam die Unerfahrenheit. Das war schwierig. Aber wir haben auch gelernt, dass nicht  alles fertig sein muss, nicht alles perfekt.

Silvia: Ich bin sowieso, glaube ich, vom Charakter her nicht so perfektionistisch. Ich mache lieber die Sachen, bevor mich der Gedanke, dass es vielleicht nicht perfekt wird, davon abhält.

Die  Zeit zwischen 30 und 60 ist genauso lang wie die Zeit zwischen 60 und 90.
Daher ist es auch wichtig, dass man sich in seinem Alter noch mal Ziele setzt oder Wagnisse eingeht.

So ein Projekt kostet viel Kraft, es kostet viel Geld, es kostet Zeit. Welche Rolle spielte das Alter? Spielte der Gedanke eine Rolle: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Silvia: Bei mir – ehrlich gesagt – nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass es darum ging und geht, herauszukriegen, wer man ist und was man alles kann. Ich weiß noch, ich wollte das Haus unbedingt. Guidos spontane Frage dagegen war: „Sag mal Silvia, ich bin Regisseur. Soll ich jetzt Bauer werden oder was?“ Und da habe ich gesagt: Ja, und das können wir lernen. Wir können bestimmt so viel lernen, dass wir ganz viel Freude noch miteinander haben und auch hier haben werden. Also das Alter hat uns nicht beschleunigt, sondern eher die Neugier, etwas Neues zu lernen.

Guido: Für mich war Regie immer ein Traumberuf.  Aber wenn man ein gewisses Niveau erreicht hat, wenn man die Branche, die  Mechanismen kennt, wird irgendwann auch das Geliebteste zum Job, man ist so ein bisschen desillusioniert. Silvia hat letztens einen ganz tollen Spruch gebracht, sie sagte: „Die  Zeit zwischen 30 und 60 ist genauso lang wie die Zeit zwischen 60 und 90.“ Daher ist es auch wichtig, dass man sich in seinem Alter noch mal Ziele setzt oder Wagnisse eingeht. Wir sind hier anfangs nicht auf die Insel gekommen, um Vollgas zu geben und Weinbau zu machen. Aber wir haben gemerkt, dass wir noch ganz viel Energie haben und die auch produktiv für uns einsetzen wollen. Wir planen jetzt für die nächsten zehn Jahre, da wollen wir auch noch mal was investieren – und dann gucken wir weiter. Ich finde es cool, im Leben zurückzublicken und zu sagen, ich habe das eine gemacht, das habe ich geliebt, und ich habe etwas anderes gemacht, das habe ich auch geliebt.

Ihr seid mit der Entscheidung im Reinen?

Guido: Es ist ja nicht so, dass alles, was wir machen, funktioniert. Doch Scheitern, das lernt man auch in der Filmbranche. Und dieses Aushalten und mit Rückschlägen umzugehen. Und ich glaube, das kann man in einem gewissen Alter sehr gut. Der andere Aspekt: Die Kinder sind groß, die sind versorgt, die machen ihr eigenes Ding. Für diese Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gibt es ja gar keinen richtigen Namen. Es gibt nur dieses Negative: Midlife-Crisis; aber diese neue Freiheit, die man hat, das ist ein ganz starkes Momentum. Ich glaube, viele Menschen in unserem Alter haben noch etwas zu geben, und sie wollen es auch.

Die Regel nur ist eine andere. Viele  warten auf ihre Rente – und hoffen dann, die Sachen machen zu können, die sie immer machen wollten. Mit Pech aber ist es dann zu spät.

Guido: Es bringt einem aber auch niemand bei. Es geht immer nur um die Frage: Rente mit 67 oder 65 oder 70? Die Diskussion ist nicht: Wie kannst du im Alter produktiv sein und dein Leben gestalten? Oder, wie möchtest du überhaupt alt werden? Wie willst du leben? Das fragen wir uns immer. Passt das jetzt? Wie fühlt sich das an – und wie möchten wir alt werden? 

Lass mal gucken, wo das Gute in dem Scheiß hier jetzt ist!

Silvia, du warst vor einigen Jahren an Krebs erkrankt. Hatte diese Erfahrung die Entscheidung beflügelt, Hamburg hinter sich zu lassen?

Silvia: Nicht, weil ich mit der Endlichkeit  konfrontiert wurde, sondern eher, weil mir  mit der Zeit klar geworden ist,  dass man eben nur e-i-n Leben hat, und dass die Energie, die man jetzt hat, die Energie von jetzt ist. Und dass es deswegen keinen Grund gibt, auf irgendwas zu warten, was einen vielleicht lockt oder was einen treibt oder anschubst.

Guido: Wir müssen aber auch sagen: 2020 war ein Anschubser. Wir sind ja damals alle angehalten worden durch Corona. Wir hatten damals gerade ein Riesenfilmprojekt fertig fürs Kino, der Film sollte in 120 Kinos kommen in Deutschland. Und dann war da der komplette Stopp. Aber wie gesagt, wir kennen das aus der Projektarbeit, wir wissen: Es gibt immer Wellen. Es gibt Positives. Es gibt Negatives. Und in solchen Momenten sagen wir uns – so auch bei Corona – lass mal gucken, wo das Gute in dem Scheiß hier jetzt ist. Und das Gute in dem Scheiß war, dass wir uns Zeit genommen haben, um zu schauen, wo wir stehen, worauf wir Lust haben, was wir uns vorstellen können. Und dann haben wir plötzlich darüber nechgedacht, unseren Lebensmittelpunkt zu verändern.  Wir waren uns einig, dass wir irgendwo leben wollen, wo es weniger Menschen, mehr Horizont und im besten Fall Wasser gibt, in Gedanken sind wir zunächst in Deutschland geblieben.

Silvia: Und dann waren wir in Heidelberg bei unserem Sohn, der damals dort studierte. Die Studenten hatten ein Stück Land gepachtet und dort Obst und Gemüse angebaut. Wir haben dort mitgewässert und  abends darüber gesprochen, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, jetzt, wo sich in der Welt so viel verändert, ob wir uns nicht auch noch ein bisschen mehr verändern wollen. Also nicht nur einen Ort suchen, sondern einen neuen Ort, wo wir viel mehr selbst machen können und mehr lernen. Und dann war das Thema Selbstversorgung  auf einmal in unserem Kopf. Wir änderten die Immobiliensuche im Netz, und der erste Hof, der uns angezeigt wurde, war der Hof hier.

 

 

Was ich habe, ist so ein Urvertrauen. Wenn Guido und ich beschließen, gemeinsam eine Sache zu machen, dann ziehen wir das auch durch. Ich frage mich dabei immer: Was ist denn das Schlimmste, was dir passieren kann – mal abgesehen  vom Thema Gesundheit. Also was hat man wirklich zu verlieren?

Fotos: Privat

Welche Rolle spielt Ihr als Partnerschaft? Wie hat das Projekt Euch vielleicht verändert? 

Guido: Wir haben eine sehr lebendige und intakte Partnerschaft. Wir streiten viel, aber immer in der Sache. Wie in der Produktion und in der Regie, da ist per se auch nicht ein harmonisches Verhältnis. Aber man ergänzt sich, man braucht sich und man kann sich aushalten. Und da ist halt auch ein Vorteil, dass wir uns schon ein bisschen die Hörner abgestoßen hatten durch die Zusammenarbeit mit den Filmproduktionen. Und dass es gut war, dass das Timing gestimmt hat, dass da Zeit war, auch mal etwas anderes zu machen. Und es ist auch spannend, wie sich unsere Rollen entwickelt haben. Silvia war früher mehr eine Supporterin, so eine Möglichmacherin. Sie ist unheimlich gut darin, Menschen Mut zu machen und ihnen Flügel zu verleihen. Und ich war eher der Kreative mit den verrückten Ideen. Nicht, dass wir nicht schon immer auf Augenhöhe zusammengearbeitet hätten, aber jetzt ist es eher so, dass wir zusammen ganz viel Ideen entwickeln.

Silvia: Was uns beide verbindet, ist, dass wir uns beide nicht langweilen wollen, auch nicht miteinander. Und das bedeutet, dass wir beide voneinander verlangen, dass wir flexibel im Kopf und in allem sind. Für mich ist Guido der spannendste Mensch in meinem Leben. Und ich weiß, ich bin auch der spannendste Mensch in seinem. Aber dadurch, dass wir so in der Dynamik miteinander sind, haben es auch viele Menschen schwer, uns auszuhalten. Wir sind schon auch krasse Charaktere. Wenn wir uns langweilen, dann sagen wir das auch.

Selbstständigkeit bedeutet zwar, dass man die Arschlochquote in seinem Leben reduzieren kann. Es bedeutet aber auch Unsicherheit.

Für den Neustart habt Ihr Euer Haus in Hamburg verkauft. Damit befandet Ihr Euch in einer ziemlich privilegierten Situation. Nicht jeder verfügt über einen finanziellen Puffer. Oder täuscht das? Kann jeder so durchstarten?

Guido: Natürlich war es eine privilegierte Situation. Aber ich denke, wir hätten es auch gemacht, wenn es nicht so gewesen wäre.

Silvia: Das Ganze hat ja eine Vorgeschichte. Wir sind ja nicht aus dem Angestelltenverhältnis hier auf diese Insel gegangen, sondern aus einem Prozess heraus. Auch ich habe sehr viel Angestelltenerfahrung, ich habe eine kaufmännische Ausbildung. Aber Stück für Stück habe ich erkannt, dass ich mich in so gepressten Räumen und Arbeitsatmosphären  eingeengt fühle. Also habe ich mich da herausgearbeitet in die Selbstständigkeit. Selbstständigkeit bedeutet zwar, dass man die Arschlochquote in seinem Leben reduzieren kann und bestimmen kann, mit wem oder warum man bestimmte Sachen macht. Es bedeutet aber auch Unsicherheit und dass man sich wirklich ständig darum kümmern muss, weiter zu kommen. Wir haben uns aus eigener Kraft den Weg dorthin gebahnt, wo wir jetzt stehen; der Deal fing viel früher an.

Der Mut zum Aufbruch hat sich mit den Jahren entwickelt? 

Silvia: Zumindest habe ich einen ganz anderen Selbsterhaltungstrieb. Als ich mit 17 Mutti wurde, musste ich mir die Frage stellen: Geht jetzt gar nichts mehr oder jetzt erst recht? Und ich habe mich für „jetzt erst recht entschieden“, weil ich auch eine ganz starke Mami habe, die mir den Rücken gestärkt hat und meinte: „Hey: Das schaffst du.“ Es ist wichtig zu gucken, wo ist die Qualität in deinem Leben und wo musst du wann sein und mit welchem Fokus.

Was ratet Ihr Leuten, die mit ähnlichen Gedanken spielen, also neu aufbrechen und los?

Guido: Wir hatten hier gerade einen niederländischen Weinbauern zu Besuch, der  meinte: „Es kann so viel schiefgehen, und es wird alles schief gehen.“ Das ist jetzt hier kein Paradies, es ist genau wie in der Filmbranche ein Hardcorejob. Aber man empfindet eine andere Ruhe. Man lebt nicht in dieser Babbel, die einen verrückt macht.

Silvia: Wir haben uns klar gemacht, dass wir nur eine Chance haben wirklich anzukommen,  wenn wir uns die Zeit geben. Oberstes Ziel im ersten Jahr war es daher, uns nicht verrückt machen zu lassen, sondern so viel es geht zu lernen.

Guido: Es gab hier schon zwei Ferienwohnungen, und das war natürlich das Tolle, da mussten wir nur reinwachsen in dieses bestehende System. Das andere war, dass ich mich gefragt habe, was ist es denn, was mich genauso begeistert wie das Filmemachen. Und da sind wir dann auf die Idee mit dem Weinanbau gekommen. Das ist jetzt so ein bisschen hier auch unsere Identität. Wir haben sozusagen für ein uns  ganz breites Feld entdeckt, was wir nun mit Inhalten füllen.

Silvia: Die Wege sind hier kurz. Wenn du Gutes tust, ruft dich der Bürgermeister an und sagt: „Finde ich gut, kann ich dir helfen?“ Oder der Tourismus- und Wirtschaftschef  fragt: „Ey, das, was ihr macht,  ist gut für alle. Wie können wir Euch dabei unterstützen“? Das fühlt sich irgendwie gut an. Also ich habe fast das Gefühl, dass wir gerade die sinnhafteste Zeit unseres Lebens haben, weil so viel aus unserem Leben zusammenkommt. Und um nochmal auf deine Frage zur Angst zurückzukommen: Ich hatte keine Angst davor, bei Null anzufangen. Ich glaube, die Grundlage ist, dass wir Menschen mögen und dass wir frei sind, auf sie zuzugehen. Wir haben uns unheimlich schnell vernetzt. Und die Menschen hier haben begriffen, dass wir nicht hierher gekommen sind, um die Schotten dicht zu machen. Sondern, dass wir hier und mit ihnen sein wollen.

Ich war so überrascht von dem, wie ich auf dem Bild strahle.

Guido: Mental ist man hier ganz anders drauf. Ich habe neulich ein Foto gemacht, weil ich es unserem Sohn schicken wollte. Und ich  dachte, als ich es mir das Bild genauer anschaute: „Krass, wie ich lach‘.“ Ich war so überrascht von dem, wie ich auf dem Bild strahle. Und Freunde sagen das auch, dass wir uns verändert haben, dass ich mich verändert habe.

Silvia: Wir haben jetzt erst einmal angefangen, wieder unsere Sinne richtig zu benutzen: Hey, riechst du das? Hey, schmeckst du das?  Also dieses Miteinander mit der Natur, mit den Tieren, das Miteinander auskommen, Sachen zu entdecken, das haben wir in der Stadt alles nicht gehabt – und das ist eine extreme Bereicherung und auch eine extreme Veränderung in meinem Leben. Und es macht mich auch irgendwie ruhig. Ich hatte sonst mehr Umdrehungen. Ich fühle mich hier entspannter. Von Anfang an haben wir gesagt, die Dänen scheinen ja ein glückliches Volk zu sein, gucken wir mal, was wir uns bei ihnen abgucken können. Eine der ersten Erfahrungen im Sommer war, dass wir an einem Sonntagnachmittag in die Bierbrauerei wollten – also eigentlich sind wir nicht wirklich Biertrinker – , aber wir haben gedacht, das ist bestimmt toll, bei 30 Grad um 15 Uhr in einem Biergarten zu sitzen. Aber da war ein Schild mit der Aufschrift: „Wir haben zu, wir sind baden.“ Von den Dänen kann man eben nicht nur lernen, was hyggelig bedeutet, man kann auch lernen, was Gelassenheit bedeutet. Eine Gästin hat mal gesagt, dass man hier ein bisschen im besten Sinne des Wortes verwildert.

Wie geht es jetzt weiter?

Guido: Also ich habe noch keine Pläne für danach, die ergeben sich eher so. Ich bin ja froh, wenn ich jetzt die nächsten zehn Jahre körperlich gut durchhalte: Die Zeit, wo man sich unverwundbar fühlte und überall reinstürzt, so sind wir nicht mehr. Wir sind auch nicht zu naiv oder blauäugig. Einstein hat mal gesagt: „Verrückt ist der, der jeden Tag das Gleiche macht und hofft, dass sich etwas ändert.“ Wir versuchen eher, zu gestalten. Wir sind dabei durchaus demütig. Und wir gehen nicht davon aus, dass alles, was wir machen, immer klappt. Die Erfahrung sagt, du kannst alles richtig machen, alles, was in deinen Möglichkeiten steht – und trotzdem funktioniert es nicht. Dann  braucht es den Spirit zu sagen: Okay, dann machen wir eben etwas anderes. 

Buch-Tipp
Stadt Land Insel –
Wie wir in der dänischen Südsee unser Zuhause fanden
Silvia und Guido Weihermüller
Knesebeck-Verlag
Gebunden mit Schutzumschlag
241 Seiten
ISBN 978-3-95728-703-8

Mehr Infos hier:
https://www.oekogard-aeroe.de/

Für diese Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gibt es ja gar keinen richtigen Namen. Es gibt nur dieses Negative: Midlife-Crisis; aber diese neue Freiheit, die man hat, das ist ein ganz starkes Momentum. Ich glaube, viele Menschen in unserem Alter haben noch etwas zu geben und sie wollen es auch.

Anna von Boetticher, 53

Anna von Boetticher, 53

Apnoetaucherin

Anna von Boetticher, 53

 

Foto: Alois Maurizi

„Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken“

Als Anna von Boetticher im Frühjahr 2007 einen Apnoe-Workshop belegte, ahnte sie nicht, dass sie wenige Monate später deutsche Tiefenrekorde brechen wird. Inzwischen zählt die gebürtige Münchnerin zu den  besten Apnoetaucherinnen weltweit. Ohne technische Hilfsmittel ist sie mit nur einem Atemzug  81 Meter tief getaucht, sie schwimmt mit Haien, Orcas und Mantarochen. Und sie ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er es will.  

Luftaufnahme am Lake Eyre

Foto: Privat

Foto: Alois Maurizi

Sie tauchen seit Ihrem 17. Lebensjahr; wie ist es dazu gekommen?

Ich hatte schon als Kind den Drang, andere Welten zu sehen. Mit 17 hatte ich dann die Gelegenheit, meinen ersten Tauchschein zu machen, im Bodensee, es war Oktober. Bei Nieselregen gingen wir ins wirklich kalte Wasser, ab circa drei Meter Tiefe war es sehr dunkel, man sah kaum etwas. Ich aber war begeistert. Für mich war es eine faszinierende Entdeckungsreise.

Die meisten hätten wohl eher Angst bekommen.

Das ist ja der Witz daran. Ich dagegen fand es damals toll, das waren neue Welten. Da war Schlamm auf dem Boden, da waren alte Coladosen und Autoreifen, ein Aal kam aus dem Loch, ich fands interessant.

Kennen Sie keine Angst?

Ich habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. Ich habe aber halt unter Wasser nie Angst, überlege dann eher, was ich als Nächstes machen muss. Aber Sie haben recht, vielen ist es ungemütlich zumute, wenn sie irgendwo an der Oberfläche schwimmen, unter ihnen das tiefe Unbekannte, sie haben dieses Gefühl von Ausgeliefertsein. Ich dagegen fand das immer faszinierend, und wollte und will auch heute noch immer gucken, was da unten so los ist. Ich möchte eintauchen, ich möchte ein Teil davon sein. Das heißt jetzt aber nicht, dass ich vor nichts Angst hätte.

Sondern? 

Spinnen, Kakerlaken, Krabbeltiere, das ist nicht so mein Ding. Ich springe auch von nichts herunter. Ich mag dieses Gefühl nicht, ich mag auch Achterbahn fahren nicht. Da hab ich zwar keine Angst, dass mir etwas zustößt, aber ich kann dieses Gefühl nicht leiden.

Wie bereiten Sie sich auf einen Tauchgang vor? Gibt es so etwas wie einen Routineablauf? 

Wie ich mich vorbereite, hängt sehr von den äußeren Umständen des Tauchgangs ab. Einen Wettkampftauchgang, in dem es um eine maximale Leistung geht, ist ja etwas anderes als ein Tauchgang für Entdeckungen an einem Ort mit schwierigen Bedingungen, wie zum Beispiel etwa im Eis. Auf jeden Fall gibt es immer einen Moment der Konzentration, bevor es losgeht.

Was müssen Sie auf dem Weg nach unten und nach oben beachten; was ist der schwierigste Teil? 

Bei Tauchgängen, in denen es um das Erreichen einer maximalen Tiefe geht, ist auf dem Weg nach unten das größte Problem der Druckausgleich in Ohren, Stirn und Nebenhöhlen. Ab einer bestimmten Tiefe wird der kompliziert – dann brauche ich meine ganze Aufmerksamkeit, um keinen Fehler zu machen und habe deshalb die Augen geschlossen. Gleichzeitig versuche ich, möglichst entspannt zu bleiben, um wenig Sauerstoff zu verbrauchen. Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken. Unten angekommen, drehe ich mich und mache mich zügig auf den Weg nach oben – da heißt es, einen guten Rhythmus zu halten und sich nicht von brennenden Muskeln irritieren zu lassen. Ein Erkundungstauchgang dagegen ist eine ganz andere Geschichte – der ist vielleicht nicht sehr tief, hat aber unter Umständen ungewöhnliche Herausforderungen, wie etwa eine geschlossene Eisdecke über dem Kopf. Dann geht es zum Beispiel darum, die Orientierung zu behalten und sich in der Tauchzeit stark einzuschränken, um eine hohe Sicherheitsmarge zu haben.

Wie reagiert Ihr Körper auf die Gesamtsituation? 

Wir alle haben den so genannten Tauchreflex, der uns schützt, wenn wir mit dem Gesicht im Wasser sind und nicht atmen können. Es ist eine Art Sauerstoffsparmodus, eine Überlebensfunktion des Körpers, der bei Babys und Kindern besonders stark ausgeprägt ist. Diesen Mechanismus teilen wir übrigens mit Meeressäugern wie Delfinen, Walen oder Robben. Wenn wir mit dem Gesicht im Wasser eintauchen und dabei den Atem anhalten, registriert dieser Körper schnell, dass wir nicht atmen können. Er fängt an, Sauerstoff zu sparen. Dazu wird erst einmal die Herzfrequenz gesenkt – der Puls fällt in meinem Fall bis auf 30 Schläge die Minute, unter Umständen auch noch darunter. Nach einer Weile kommt dann noch eine Verengung der Gefäße hinzu, Blut wird aus Armen und Beinen abgezogen und umverteilt, um die lebenswichtigen Organe wie Herz, Lunge und Gehirn zu versorgen, die jetzt Priorität haben. Dabei erweitern sich die Gefäße zum Gehirn, damit es nach unten gut durchblutet wird. Dieser Vorgang ist sehr effektiv – im Erwachsenenalter wird er bei uns allen schwächer, aber durch Training kann man ihn wieder verstärken und sich so ein Stück weit an die Unterwasserwelt anpassen. Der Mensch ist ein Anpassungswunder. Das zu erleben, ist sehr faszinierend.

Ach habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. 

Foto: NDR/Henning Rütten

Was ist das für eine Welt dort unten? 

Darauf gibt es zahllose Antworten. 80 Meter in einem deutschen See etwa sind anders als 80 Meter in der Karibik, offenes Meer anders als eine Steilwand in Ufernähe. Taucht man in die Tiefe des Mittelmeers weit vom Ufer entfernt, der Grund ist irgendwo, noch weitere hundert Meter entfernt, dann ist es in 80 Metern dämmrig, aber nicht komplett schwarz, wie man meinen könnte. Um einen herum ist glasklares Wasser, in alle Richtungen ist es blau. Schaut man nach unten, dorthin, wo sich das Meer bodenlos anfühlt, ist es schwarzblau, ein wenig wie in einer Wolkennacht, weit draußen irgendwo. Blickt man in die Ferne, in die man gefühlt endlos sehen kann, ist es das intensive Dunkelblau, das das Meer selbst oft hat, wenn man über die Wellen segelt. Nach oben hin wird es heller, durchscheinend, es ist klar, hier geht es zurück. Man sieht das Licht der Tiefe, das jedes mal anders ist – und immer faszinierend und schön. Mit diesem Licht bin ich ein Teil des Ozeans, es ist eine wunderschöne Welt.

Wie fühlt es sich an mit all dem Wasser um und über sich; kann man das mit irgendetwas vergleichen? 

Ich denke nicht, dass man diese Erfahrung mit etwas vergleichen kann. Ich denke auch, dass sie jeder anders erlebt – manche Menschen, auch erfahrene, sehr gute Apnoetaucher kennen den Moment der Angst in der Tiefe, in denen ihnen plötzlich bewusst wird, wie weit weg sie sind, von der Oberfläche. Ich persönlich hatte ihn nie, für mich ist es faszinierend zu spüren, wie sehr ich ein kleiner Teil in einem sehr großen, weiten Raum bin und inwieweit ich mich dort auch aufhalten kann. 

Was denken Sie dort unten?

Je nachdem, was ich dort unten gerade mache, variiert das natürlich. In einem Wettkampftauchgang bin ich erstmal froh, meine Tiefe erreicht zu haben und konzentriere mich dann sofort auf den Rückweg. In anderen Fällen möchte ich mir dort unten vielleicht etwas ansehen, dann fasziniert mich ein besonderer Anblick. Aber immer, egal wie oder warum ich tauche, nehme ich die Tiefe in mich auf – und wenn es nur das Licht ist, dass mich dort umgibt. Es ist jedes mal etwas Besonderes. 

Welche Ausrüstung tragen Sie?

Wir Apnoetaucher brauchen erst mal nur einen Neoprenanzug, eine Maske und Flossen. Man kann aber auch ganz ohne Flossen tauchen oder aber mit einer Monoflosse – ein wenig wie ein Delfinschwanz. Für den Sport und im Wettkampf kommt noch ein Tauchcomputer dazu, von dem man später Tauchtiefe und Zeit ablesen kann, sowie ein Lanyard, mit dem man zur Sicherheit mit einem Seil verbunden ist, an dem entlang man in die Tiefe taucht.

Etwas, was Sie gar nicht mögen, also aufs Tauchen bezogen? 

Ich mag es gar nicht, wenn kaltes Wasser mich berührt – ich schwimme zum Beispiel nicht gerne als Sport, weil mir die meisten Schwimmbäder mit 25 Grad zu kalt sind. Trotzdem bin ich immer wieder im und unter Eis getaucht – bei extremer Kälte unter und über Wasser, weil mich die veränderten Welten interessieren. Dann halte ich die eisigen Temperaturen eben aus – und es ist jedes Mal so spannend, dass ich die Kälte vergesse. Abgesehen von der Planung der Ausrüstung und Ähnlichem bereite ich mich aber nicht besonders darauf vor, ich mache es einfach. Gegen die Kälte wieder schützt nur der Neoprenanzug, allerdings auch nur bedingt, denn mehr als sechs Millimeter sind es nicht, im Eis der Gletscher nur 2,5 Millimeter.

Wie tief wollen Sie noch gehen? Wie tief kann ein Mensch überhaupt tauchen?

Was das angeht, habe ich keine Pläne. Zurzeit hat sich mein Fokus vom Erreichen einer maximalen Tiefe auf das Entdecken ungewöhnlicher Orte und Facetten der Unterwasserwelt verschoben. Wie tief ein Mensch tauchen kann, weiß niemand genau – in jedem Fall tiefer, als man dachte. 

Wann wird Apnoetauchen gefährlich?

Apnoetauchen ist tatsächlich ein sehr sicherer Sport, bei dem es kaum einen Grund gibt, schwere Verletzungen mit bleibenden Schäden davon zu tragen oder gar zu sterben. Das setzt allerdings voraus, dass man die Sicherheitsregeln beachtet, die in diesem Sport üblich sind, etwa: Tauche niemals alleine. Unsere größte Gefahr ist es, im Wasser ohnmächtig zu werden. Diese Ohnmacht kann immer vorkommen – meistens dauert sie nur Sekunden und ist an sich gar nicht schlimm, vorausgesetzt, es ist jemand da, der den Taucher sofort aus dem Wasser holt. Daher bitte niemals alleine, ohne Partner im Wasser den Atem anhalten. Auch nicht in öffentlichen Schwimmbädern – man braucht immer jemanden, der gezielt auf einen achtet. 

Was waren Ihre denkwürdigsten Begegnungen?

Ach, es gibt so viele davon! Eine, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Begegnung mit einem Orca. In Norwegen kommen im Winter große Heringsschwärme vorbei, die wiederum Buckelwale und Orcas anziehen, die die Heringe fressen. Wir trieben damals Mitte November im Dämmerlicht der Polarnacht in einem Fjord, es schneite. Wir hatten vom Boot aus Orcas gesehen und waren ins Wasser gegangen, doch im Moment war alles ruhig. Ich tauchte also ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächsten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club. Es näherte sich bis auf etwa 2 Meter, umkreiste mich und kehrte dann zu seiner Gruppe zurück, die inzwischen im Hintergrund vorbei zog, inklusive Mütter mit Kälbern. Ein unvergleichliches Erlebnis.

Was hat das Leben Sie gelehrt – was hat das Tauchen Sie gelehrt?

Über die Arbeit als Tauchlehrer habe ich früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, auch für andere. Das Tauchen an sich hat mir erlaubt, Schritt für Schritt die Grenzen meines eigenen Könnens zu verschieben und über die vielen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen zu lernen, in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Das ist etwas, was sich auf das ganze Leben überträgt. Das Leben wieder hat mich, wie uns alle, gelehrt, das weder Erfolge noch Rückschläge ewig dauern und mit den Höhen und Tiefen umzugehen, ohne mich darin zu verlieren. 

Was unterscheidet die junge Anna von der Anna von heute?

Wie jeder Mensch, der erwachsen wird, bin ich sehr viel selbstsicherer in meinen Entscheidungen geworden. Ich weiß, was ich wie machen möchte und was nicht – und warum. Das macht vieles einfacher. 

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Keine Ahnung! Ich bin gespannt, was sich bis dahin alles ergibt. Regisseur James Cameron ist mal in einem U-Boot 10 000 Meter zur tiefsten Stelle des legendären Marianengrabens abgetaucht. Später wurde er gefragt, warum er dieses Risiko eingegangen ist. Seine Antwort: „Weil es mein Herz mit Staunen erfüllt.“ Für mich kann ich sagen: „Mein Herz staunt jeden Tag.“

Tipp

Der Film
Der Filmemacher Henning Rütten hat Anna von Boetticher auf ihren aufregenden Abenteuern auf den Azoren, in Mexiko, auf Island und in Budapest begleitet. Entstanden ist daraus die vierteilige Dokumentation „Waterwoman“. Zu finden in der NDR-Mediathek

Das Buch
„In die Tiefe – Wie ich meine Grenzen suchte und Chancen fand“
Anna von Boetticher
Ullstein Verlag
208 Seiten
ISBN 978-3864930706

Mehr Informationen:
https://annavonboetticher.com

Ich tauchte ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club.

Petra van Bremen, 64

Petra van Bremen, 64

Model

Petra van Bremen, 64

 

Foto: Michael Kubenz

„Jetzt habe ich den Mut, neue Wege einzuschlagen, jetzt traue ich mich mehr“

Mutter, Großmutter, Ehefrau, Model. Petra van Bremen fühlt sich in vielen Rollen wohl. Dass ihre Karriere vor der Kamera eher spät begann, hat einen Grund: Sie musste, wie sie sagt, erst zu sich selbst finden. Im kommenden Jahr wird die gebürtige Niederländerin 65 Jahre alt. Dem Geburtstag sieht sie gelassen entgegen: „Natürlich habe ich auch Tage, an denen morgens die Augen verquollen sind oder die Beine geschwollen, weil mein Wasserhaushalt nicht gut funktioniert. Aber ich kann es nicht ändern. Das ist der Lauf der Dinge.“

 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Foto: Michael Kubenz

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die beste Zeit ist jetzt“. Ist das tatsächlich so?

Wenn es um mich persönlich geht, kann ich sagen: ja, das ist so. Natürlich hat auch die Jugend ihren Charme; die Unbefangenheit, mit der man an Dinge herangeht. Mir aber geht es heute sehr viel besser mit der im Laufe der Jahre gewonnenen Gelassenheit. Früher war ich eher verunsichert – auch mir selbst gegenüber. Inzwischen hat sich in mir aber eine innere Zufriedenheit, hat sich ein angenehmes Selbstbewusstsein und ein Gleichgewicht manifestiert, das finde ich schön. Jetzt habe ich den Mut, neue Wege einzuschlagen, ich traue mich mehr.

Was ist passiert?

Früher hatte ich noch nicht das zu erzählen, was ich jetzt zu erzählen habe. Als damals der Ruf aus Paris kam, als Model dorthin zu gehen, habe ich abgelehnt, da fehlte mir der Mut. Aber wenn mir jetzt etwas Neues auf meinem Weg begegnet und es passt zu mir, dann mache ich das.

Auch für sie ist es schön zu sehen, dass es nach oben keine Grenzen gibt, dass man auch als älteres Model noch eine Zukunft vor sich hat.

Die Petra von heute ist eine andere als die mit 30?

Schaue ich in den Spiegel, sehe ich kein Alter, da ist nur Petra. Aber die Petra hat sich gefestigt. Früher hat sie gesucht und die Meinungen anderer waren wichtig. Heute ist sie in Balance und zufrieden mit sich selbst, das ist ein Riesenunterschied. Ich habe meine Mitte gefunden; da schlägt nichts aus nach links oder rechts.

Wie fühlt sich die Zusammenarbeit mit jungen Models an, häufig sind sie 30 Jahre jünger?

Die Erwartungen und Anforderungen sind am Ende immer gleich. Und es ist tatsächlich auch schön, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Und ich bin überzeugt: Auch für sie ist es schön zu sehen, dass es nach oben keine Grenzen gibt, dass man auch als älteres Model noch eine Zukunft vor sich hat. Ich werde nächstes Jahr 65. Ich freue mich einfach über die Möglichkeiten; die Arbeit gibt mir Energie und ist auch Bestätigung für mein Selbst.

Foto: privat

Ich habe meine Mitte gefunden; da schlägt nichts aus nach links oder rechts.

Wie wichtig ist das Alter für sie selbst?

Bei den Geburtstagen von 30 auf 40 oder von 40 auf 50, da war alles locker, aber beim 60.; da war es das erste Mal, dass ich mich gefragt habe; wo willst du jetzt hin, wo stehen ich und mein Mann, wie wollen wir die letzte Lebensphase ausfüllen, wenn wir gesund bleiben? Wahrscheinlich hatte es auch damit zu tun, dass Menschen in unserer Umgebung krank geworden oder gestorben sind. Man merkte schnell, wie dankbar man sein muss, dass man gesund ist. Aber unabhängig davon: Warum sollte ich nicht zu meinem Alter stehen, es passieren doch noch solche tollen Sachen. Natürlich habe ich auch Tage, an denen morgens die Augen verquollen sind oder die Beine geschwollen, weil mein Wasserhaushalt nicht gut funktioniert. Aber ich kann es nicht ändern. Das ist der Lauf der Dinge.

Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? 

Mit meinem Mann so lange wie möglich zu leben. Dass wir zusammen Hand in Hand in unsere letzte Lebensphase reinspazieren – mit allen Herausforderungen rechts und links.

Da steht doch nirgends; du bist jetzt 65 – und goodbye, das wars. Wir haben doch kein Ablaufdatum.

Haben Sie für sich selbst schon alles geregelt?

Ja, ich fand das wichtig. Wenn denn gar nichts mehr geht, dann kann mein Mann die richtige Entscheidung für mich treffen, da vertraue ich ihm vollkommen. Meine Mutter war an Alzheimer erkrankt. Ich habe gesehen, was diese Krankheit mit einem Menschen macht; sie nimmt einem die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.

Was glauben Sie, bekommen die Älteren den Respekt von der Gesellschaft, den sie verdienen?

Es gibt noch immer ein Imageproblem. Jeder möchte lang leben, aber niemand möchte alt aussehen. Zugleich merke ich, wie groß das Bedürfnis ist, man selbst sein zu dürfen. Altersdiskriminierung – ich möchte das Wort eigentlich gar nicht aussprechen – , aber die existiert ja tatsächlich; und ich finde es nicht immer positiv, was da passiert, wenn etwa Moderatorinnen beim Fernsehen ausgewechselt werden, weil sie nicht mehr ins Bild passen. Daher ist es auch wichtig, dass sich die Gesellschaft dafür stark macht und die Weisheiten honoriert, die die Älteren gesammelt haben. Da steht doch nirgends; du bist jetzt 65 – und goodbye, das wars. Wir haben doch kein Ablaufdatum. Wenn ich für eine Fashionshow gebucht werde, spüre ich bei den Frauen im Publikum, wie toll sie es finden, dass sie sich in ihrer Altersgruppe spiegeln können, ich kann in ihren Augen sehen, wie sie sich sagen: Schaut, wenn sie das Kleid trägt, kann ich das vielleicht auch oder wenn sie graue Haare trägt, dann kann ich es vielleicht auch mal ausprobieren.

Buch-Tipp
Deine beste Zeit ist jetzt
Knesebeck-Verlag
Gebunden mit Schutzumschlag
208 Seiten
ISBN 978-3-95728-657-4

Mehr Informationen:
www.petravanbremen.com

Es gibt noch immer ein Imageproblem. Jeder möchte lang leben, aber niemand möchte alt aussehen. Zugleich merke ich, wie groß das Bedürfnis ist, man selbst sein zu dürfen.

Bettina Putzig, 59

Bettina Putzig, 59

Triathletin

Bettina Putzig, 59

Fotos: Privat

„Ich weiß jetzt, ich kann alles erreichen, wenn ich es will.“

Bettina Putzig ist eine erstaunliche Frau. Die 59-Jährige aus Baden-Württemberg war zwar schon immer eher der sportliche Typ. Dann aber erkrankte sie zunächst an Hüftarthrose, kurze Zeit später erlitt sie einen Bandscheibenvorfall. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken oder etwas kürzer zu treten, tat sie das, was sie immer tat:  Vollgas geben – und mit dem Sport ging es für sie dann erst richtig los. Schwimmen, Radfahren, Joggen – Langdistanz. Bettina Putzig ist überzeugt: „Triathlon ist das Beste, was mir passieren konnte.“

Du hast schon immer Sport gemacht, zuletzt aber schien deine Karriere beendet.

Genau. Ich bekam die Diagnose Hüftarthrose und hatte einen Bandscheibenvorfall, das Bein war gelähmt. Zuerst dachte ich, okay, jetzt schlägt das Alter langsam zu, jetzt musst du mal schauen, was es für Alternativen gibt. Dann aber fiel mir Kraulen ein, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keine wirklich gute Schwimmerin war. Mein Bruder besuchte damals ein Triathlon-Camp auf Lanzarote – und er riet mir: „Die nehmen auch Anfänger, probier es aus.“

Was passierte dann?

Dann telefonierte ich mit den Organisatoren und schilderte mein Problem. Die versprachen: „Kriegen wir hin.“ Und ich meinte: „Ihr wisst noch nicht, was auf Euch zukommt.“ Im Flugzeug auf dem Weg zum Camp fragte mich:  „Bist du eigentlich bescheuert? Was machst du überhaupt hier?“

Wie alt warst du zu dem Zeitpunkt? 

51 Jahre alt. Aber: Nach einer Woche konnte ich 25 Meter am Stück freihändig kraulen.

Trotzdem wollte man dich bei deinem ersten Triathlon aus dem Wasser ziehen.

Ja, weil ich so schlecht geschwommen bin. Aber denen von der DLRG hab‘ ich gesagt: „Lasst mal, ich schaff das.“ Ich war zwar die Letzte, die aus dem Wasser kam, aber ich sah aus wie die Siegerin. Seither ist Triathlon mein Ding.

Wie sieht dein Trainingsplan aus?

Bisher habe ich Freestyle gemacht. Aber jetzt fange ich an, nach Plan zu trainieren, auch wenn ich ihn hin- und wieder modifiziere. Ansonsten trainiere ich acht bis zehn Stunden. Dienstags ist Schwimmen, Mittwoch ist Intervalltraining, Donnerstag ist Schwimmen und Radfahren, Freitag ist manchmal frei, Samstag ist langes Radfahrern, Sonntag ist langes Laufen. Und montags geh‘ ich mit den Mädchen vom Betrieb walken.

Wie bekommst du das alles organisiert: Job, Sport, die Vorbereitung auf einen Wettkampf? Ist das alles nicht sehr zeitintensiv?

Das kriegt man schon alles hin, wenn man das will, die Freizeit wird einfach um den Sport herum geplant. Auch, als ich mich für die Langdistanz vorbereitet hatte, bin ich sozial nicht vereinsamt und habe mit meinen Mädels mal einen Sekt getrunken. Und wenn ich von der Arbeit die 14 Kilometer nach Hause jogge, ist der ganze Stress schnell wieder vergessen. Das fühlt sich dann an, als wäre ich drei Tage nicht mehr auf der Arbeit gewesen.

Wie geht es dir heute körperlich? Hast du Schmerzen?

Ja, vor allem nachts, wenn ich zur Ruhe komme. Ich habe noch immer Hüftarthrose beidseitig, habe inzwischen gerade auch eine neue Hüfte bekommen. Aber mit dem Triathlon habe ich deutlich weniger Schmerzen als ohne. Durch den Sport konnte ich die  Operation sogar sieben Jahre hinauszögern. Bei Arthrose muss man sich bewegen, das ist das A und O, weil dadurch die Durchblutung in den Gelenken verbessert wird. Natürlich kann ich die Arthrose nicht rückgängig machen, aber ich konnte sie verzögern, und das war mein Ziel. 

Auch mit künstlicher Hüfte machst du weiter?

Ich habe mich schon belesen, moderates Laufen wird sogar empfohlen. Man muss nur schauen, dass die Schuhe gedämpft sind. Aber dadurch, dass ich kein Anfängerin bin, weiß ich ja damit umzugehen. Ich habe auch keine Knieprobleme wie viele andere. Und um ehrlich zu sein, hatte ich auch nur zwei Optionen: Mir entweder mit Schmerzmitteln die Nieren oder die Leber zu zerstören oder mich operieren zu lassen. Ich habe dem Arzt gesagt: Im August ist die Saison zu Ende, danach machen wir den Eingriff. Und im Januar aber will ich dann mit Ski-Langlauf anfangen. Und ich bin auch schon für den Allgäu Triathlon angemeldet.

Wie motivierst du dich?

Ich weiß einfach, dass es mir nach dem Sport immer besser geht. Und oft es ist ja so, dass es sich umso besser läuft, je weniger Lust man zunächst hatte. Es ist aber auch nicht mehr so wie früher, dass ich mich bis zum Elend durchzwinge. Das ist mein Luxus, den ich mir gönne im Alter. 

Was können ältere Athleten besser als jüngere?  

Ich würde sagen: Mit Niederlagen umgehen, denn wir wissen, das es nicht das Ende der Welt ist. Am Ende interessiert der Wettkampf auch nur einen selbst. Der Rest sind Zahlen – und die sind schnell vergessen.

Was kannst du heute besser als früher?

Zulassen und gönnen können. Früher war ich wesentlich verbissener. Aber der Iron Man hat tatsächlich etwas in mir verändert. Ich muss heute niemandem mehr etwas beweisen, ich hab‘ das Ding gerockt, und das ist schon cool, das gibt mir eine gewisse Gelassenheit. Ich weiß jetzt, ich kann alles erreichen, wenn ich es will.

Das heißt, du fühlst dich wohl in deiner Haut?

Klar, wer will nicht gerne jung sein. Aber man muss das Beste aus jeder Situation machen. Ich jedenfalls will mir nichts von meinem Alter diktieren lassen. So lange das alles geht, so lange mache ich das. Ich sage immer: Der Sport ist meine Religion, und der Wald ist meine Kirche. 

Natürlich, wer will nicht gerne jung sein, aber man muss das Beste daraus machen. Ich jedenfalls will mir nichts von meinem Alter diktieren lassen.