Silvia (57) und Guido Weihermüller (59)

Silvia (57) und Guido Weihermüller (59)

Selbstversorger

Guido & Silvia Weihermüller

 

„Ich habe das Gefühl, dass wir gerade
die sinnhafteste Zeit unseres Lebens haben“

Viele träumen davon, doch den Mut finden nur wenige: Den Alltag, den Trott hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zu gehen. Silvia (57) und Guido Weihermüller (59) haben es getan. Sie haben ihre Karrieren als Filmproduzenten und Filmemacher in Hamburg beendet und sind als Selbstversorger mit Biohof auf die dänische Insel Aero gezogen. Ihr Skript für das neue Leben: Wine- statt Filmmaker! Im Interview sprechen sie darüber, wie sie erste Startschwierigkeiten überwanden, ihre Partnerschaft gestärkt wurde und warum der Neubeginn eine große Bereicherung ist.

Luftaufnahme am Lake Eyre

Ziemlich mutig, von der Millionenstadt auf eine Insel in ein anderes Land zu ziehen. Wie leicht ist Euch die Entscheidung gefallen? Gäb es Ängste? 

Silvia: Ich glaube, ich habe gar keine Ängste. Ich habe eher Respekt vor all dem, was wir machen. Und so ein Urvertrauen. Wenn Guido und ich beschließen, gemeinsam eine Sache zu machen, dann ziehen wir das auch durch. Ich frage mich dabei immer: Was ist denn das Schlimmste, was dir passieren kann, mal abgesehen vom Thema Gesundheit, also, was hat man wirklich zu verlieren? Ich glaube, dass man eher traurig ist oder sich ärgert, wenn „hätte, hätte“  das Leben bestimmt. Das gibt es bei uns – glaube ich – nicht so viel, sondern stattdessen: Wir haben Ideen, wir prüfen die gemeinsam – und dann machen wir uns auf den Weg. Und wir wissen, dass es Steine gibt, dass wir durch irgendetwas hindurch müssen, dass wir auch etwas aushalten müssen. Und von daher, sage ich mal, hat die große Lust und die Freude auf das Neue alles andere komplett überwogen.

Guido, siehst Du das ähnlich?

Guido: Ja, wir hatten Respekt vor der Aufgabe – aber keine Angst. Jedes Filmprojekt ist ja, wenn man so will, ein Start-up, immer fängt man bei Null an. Aber wir hatten  eine tolle Übergabe vom Vorbesitzer, hatten uns genau alles erklären lassen. Und wir sind im Winter angereist, das heißt, dadurch war nicht sofort super viel zu tun. Wir konnten uns zunächst auf die Renovierung beschränken und die Nachbarn kennenlernen. Schlimm wurde es allerdings für Silvia, als sie im April  zwei Wochen zeitweilig allein war, weil ich in Deutschland ein Projekt zu Ende bringen musste. In der Zwischenzeit ist dann hier alles explodiert, alles war auf einmal grün, überall musste man gleichzeitig etwas machen. Hinzu kam die Unerfahrenheit. Das war schwierig. Aber wir haben auch gelernt, dass nicht  alles fertig sein muss, nicht alles perfekt.

Silvia: Ich bin sowieso, glaube ich, vom Charakter her nicht so perfektionistisch. Ich mache lieber die Sachen, bevor mich der Gedanke, dass es vielleicht nicht perfekt wird, davon abhält.

Die  Zeit zwischen 30 und 60 ist genauso lang wie die Zeit zwischen 60 und 90.
Daher ist es auch wichtig, dass man sich in seinem Alter noch mal Ziele setzt oder Wagnisse eingeht.

So ein Projekt kostet viel Kraft, es kostet viel Geld, es kostet Zeit. Welche Rolle spielte das Alter? Spielte der Gedanke eine Rolle: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Silvia: Bei mir – ehrlich gesagt – nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass es darum ging und geht, herauszukriegen, wer man ist und was man alles kann. Ich weiß noch, ich wollte das Haus unbedingt. Guidos spontane Frage dagegen war: „Sag mal Silvia, ich bin Regisseur. Soll ich jetzt Bauer werden oder was?“ Und da habe ich gesagt: Ja, und das können wir lernen. Wir können bestimmt so viel lernen, dass wir ganz viel Freude noch miteinander haben und auch hier haben werden. Also das Alter hat uns nicht beschleunigt, sondern eher die Neugier, etwas Neues zu lernen.

Guido: Für mich war Regie immer ein Traumberuf.  Aber wenn man ein gewisses Niveau erreicht hat, wenn man die Branche, die  Mechanismen kennt, wird irgendwann auch das Geliebteste zum Job, man ist so ein bisschen desillusioniert. Silvia hat letztens einen ganz tollen Spruch gebracht, sie sagte: „Die  Zeit zwischen 30 und 60 ist genauso lang wie die Zeit zwischen 60 und 90.“ Daher ist es auch wichtig, dass man sich in seinem Alter noch mal Ziele setzt oder Wagnisse eingeht. Wir sind hier anfangs nicht auf die Insel gekommen, um Vollgas zu geben und Weinbau zu machen. Aber wir haben gemerkt, dass wir noch ganz viel Energie haben und die auch produktiv für uns einsetzen wollen. Wir planen jetzt für die nächsten zehn Jahre, da wollen wir auch noch mal was investieren – und dann gucken wir weiter. Ich finde es cool, im Leben zurückzublicken und zu sagen, ich habe das eine gemacht, das habe ich geliebt, und ich habe etwas anderes gemacht, das habe ich auch geliebt.

Ihr seid mit der Entscheidung im Reinen?

Guido: Es ist ja nicht so, dass alles, was wir machen, funktioniert. Doch Scheitern, das lernt man auch in der Filmbranche. Und dieses Aushalten und mit Rückschlägen umzugehen. Und ich glaube, das kann man in einem gewissen Alter sehr gut. Der andere Aspekt: Die Kinder sind groß, die sind versorgt, die machen ihr eigenes Ding. Für diese Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gibt es ja gar keinen richtigen Namen. Es gibt nur dieses Negative: Midlife-Crisis; aber diese neue Freiheit, die man hat, das ist ein ganz starkes Momentum. Ich glaube, viele Menschen in unserem Alter haben noch etwas zu geben, und sie wollen es auch.

Die Regel nur ist eine andere. Viele  warten auf ihre Rente – und hoffen dann, die Sachen machen zu können, die sie immer machen wollten. Mit Pech aber ist es dann zu spät.

Guido: Es bringt einem aber auch niemand bei. Es geht immer nur um die Frage: Rente mit 67 oder 65 oder 70? Die Diskussion ist nicht: Wie kannst du im Alter produktiv sein und dein Leben gestalten? Oder, wie möchtest du überhaupt alt werden? Wie willst du leben? Das fragen wir uns immer. Passt das jetzt? Wie fühlt sich das an – und wie möchten wir alt werden? 

Lass mal gucken, wo das Gute in dem Scheiß hier jetzt ist!

Silvia, du warst vor einigen Jahren an Krebs erkrankt. Hatte diese Erfahrung die Entscheidung beflügelt, Hamburg hinter sich zu lassen?

Silvia: Nicht, weil ich mit der Endlichkeit  konfrontiert wurde, sondern eher, weil mir  mit der Zeit klar geworden ist,  dass man eben nur e-i-n Leben hat, und dass die Energie, die man jetzt hat, die Energie von jetzt ist. Und dass es deswegen keinen Grund gibt, auf irgendwas zu warten, was einen vielleicht lockt oder was einen treibt oder anschubst.

Guido: Wir müssen aber auch sagen: 2020 war ein Anschubser. Wir sind ja damals alle angehalten worden durch Corona. Wir hatten damals gerade ein Riesenfilmprojekt fertig fürs Kino, der Film sollte in 120 Kinos kommen in Deutschland. Und dann war da der komplette Stopp. Aber wie gesagt, wir kennen das aus der Projektarbeit, wir wissen: Es gibt immer Wellen. Es gibt Positives. Es gibt Negatives. Und in solchen Momenten sagen wir uns – so auch bei Corona – lass mal gucken, wo das Gute in dem Scheiß hier jetzt ist. Und das Gute in dem Scheiß war, dass wir uns Zeit genommen haben, um zu schauen, wo wir stehen, worauf wir Lust haben, was wir uns vorstellen können. Und dann haben wir plötzlich darüber nechgedacht, unseren Lebensmittelpunkt zu verändern.  Wir waren uns einig, dass wir irgendwo leben wollen, wo es weniger Menschen, mehr Horizont und im besten Fall Wasser gibt, in Gedanken sind wir zunächst in Deutschland geblieben.

Silvia: Und dann waren wir in Heidelberg bei unserem Sohn, der damals dort studierte. Die Studenten hatten ein Stück Land gepachtet und dort Obst und Gemüse angebaut. Wir haben dort mitgewässert und  abends darüber gesprochen, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, jetzt, wo sich in der Welt so viel verändert, ob wir uns nicht auch noch ein bisschen mehr verändern wollen. Also nicht nur einen Ort suchen, sondern einen neuen Ort, wo wir viel mehr selbst machen können und mehr lernen. Und dann war das Thema Selbstversorgung  auf einmal in unserem Kopf. Wir änderten die Immobiliensuche im Netz, und der erste Hof, der uns angezeigt wurde, war der Hof hier.

 

 

Was ich habe, ist so ein Urvertrauen. Wenn Guido und ich beschließen, gemeinsam eine Sache zu machen, dann ziehen wir das auch durch. Ich frage mich dabei immer: Was ist denn das Schlimmste, was dir passieren kann – mal abgesehen  vom Thema Gesundheit. Also was hat man wirklich zu verlieren?

Fotos: Privat

Welche Rolle spielt Ihr als Partnerschaft? Wie hat das Projekt Euch vielleicht verändert? 

Guido: Wir haben eine sehr lebendige und intakte Partnerschaft. Wir streiten viel, aber immer in der Sache. Wie in der Produktion und in der Regie, da ist per se auch nicht ein harmonisches Verhältnis. Aber man ergänzt sich, man braucht sich und man kann sich aushalten. Und da ist halt auch ein Vorteil, dass wir uns schon ein bisschen die Hörner abgestoßen hatten durch die Zusammenarbeit mit den Filmproduktionen. Und dass es gut war, dass das Timing gestimmt hat, dass da Zeit war, auch mal etwas anderes zu machen. Und es ist auch spannend, wie sich unsere Rollen entwickelt haben. Silvia war früher mehr eine Supporterin, so eine Möglichmacherin. Sie ist unheimlich gut darin, Menschen Mut zu machen und ihnen Flügel zu verleihen. Und ich war eher der Kreative mit den verrückten Ideen. Nicht, dass wir nicht schon immer auf Augenhöhe zusammengearbeitet hätten, aber jetzt ist es eher so, dass wir zusammen ganz viel Ideen entwickeln.

Silvia: Was uns beide verbindet, ist, dass wir uns beide nicht langweilen wollen, auch nicht miteinander. Und das bedeutet, dass wir beide voneinander verlangen, dass wir flexibel im Kopf und in allem sind. Für mich ist Guido der spannendste Mensch in meinem Leben. Und ich weiß, ich bin auch der spannendste Mensch in seinem. Aber dadurch, dass wir so in der Dynamik miteinander sind, haben es auch viele Menschen schwer, uns auszuhalten. Wir sind schon auch krasse Charaktere. Wenn wir uns langweilen, dann sagen wir das auch.

Selbstständigkeit bedeutet zwar, dass man die Arschlochquote in seinem Leben reduzieren kann. Es bedeutet aber auch Unsicherheit.

Für den Neustart habt Ihr Euer Haus in Hamburg verkauft. Damit befandet Ihr Euch in einer ziemlich privilegierten Situation. Nicht jeder verfügt über einen finanziellen Puffer. Oder täuscht das? Kann jeder so durchstarten?

Guido: Natürlich war es eine privilegierte Situation. Aber ich denke, wir hätten es auch gemacht, wenn es nicht so gewesen wäre.

Silvia: Das Ganze hat ja eine Vorgeschichte. Wir sind ja nicht aus dem Angestelltenverhältnis hier auf diese Insel gegangen, sondern aus einem Prozess heraus. Auch ich habe sehr viel Angestelltenerfahrung, ich habe eine kaufmännische Ausbildung. Aber Stück für Stück habe ich erkannt, dass ich mich in so gepressten Räumen und Arbeitsatmosphären  eingeengt fühle. Also habe ich mich da herausgearbeitet in die Selbstständigkeit. Selbstständigkeit bedeutet zwar, dass man die Arschlochquote in seinem Leben reduzieren kann und bestimmen kann, mit wem oder warum man bestimmte Sachen macht. Es bedeutet aber auch Unsicherheit und dass man sich wirklich ständig darum kümmern muss, weiter zu kommen. Wir haben uns aus eigener Kraft den Weg dorthin gebahnt, wo wir jetzt stehen; der Deal fing viel früher an.

Der Mut zum Aufbruch hat sich mit den Jahren entwickelt? 

Silvia: Zumindest habe ich einen ganz anderen Selbsterhaltungstrieb. Als ich mit 17 Mutti wurde, musste ich mir die Frage stellen: Geht jetzt gar nichts mehr oder jetzt erst recht? Und ich habe mich für „jetzt erst recht entschieden“, weil ich auch eine ganz starke Mami habe, die mir den Rücken gestärkt hat und meinte: „Hey: Das schaffst du.“ Es ist wichtig zu gucken, wo ist die Qualität in deinem Leben und wo musst du wann sein und mit welchem Fokus.

Was ratet Ihr Leuten, die mit ähnlichen Gedanken spielen, also neu aufbrechen und los?

Guido: Wir hatten hier gerade einen niederländischen Weinbauern zu Besuch, der  meinte: „Es kann so viel schiefgehen, und es wird alles schief gehen.“ Das ist jetzt hier kein Paradies, es ist genau wie in der Filmbranche ein Hardcorejob. Aber man empfindet eine andere Ruhe. Man lebt nicht in dieser Babbel, die einen verrückt macht.

Silvia: Wir haben uns klar gemacht, dass wir nur eine Chance haben wirklich anzukommen,  wenn wir uns die Zeit geben. Oberstes Ziel im ersten Jahr war es daher, uns nicht verrückt machen zu lassen, sondern so viel es geht zu lernen.

Guido: Es gab hier schon zwei Ferienwohnungen, und das war natürlich das Tolle, da mussten wir nur reinwachsen in dieses bestehende System. Das andere war, dass ich mich gefragt habe, was ist es denn, was mich genauso begeistert wie das Filmemachen. Und da sind wir dann auf die Idee mit dem Weinanbau gekommen. Das ist jetzt so ein bisschen hier auch unsere Identität. Wir haben sozusagen für ein uns  ganz breites Feld entdeckt, was wir nun mit Inhalten füllen.

Silvia: Die Wege sind hier kurz. Wenn du Gutes tust, ruft dich der Bürgermeister an und sagt: „Finde ich gut, kann ich dir helfen?“ Oder der Tourismus- und Wirtschaftschef  fragt: „Ey, das, was ihr macht,  ist gut für alle. Wie können wir Euch dabei unterstützen“? Das fühlt sich irgendwie gut an. Also ich habe fast das Gefühl, dass wir gerade die sinnhafteste Zeit unseres Lebens haben, weil so viel aus unserem Leben zusammenkommt. Und um nochmal auf deine Frage zur Angst zurückzukommen: Ich hatte keine Angst davor, bei Null anzufangen. Ich glaube, die Grundlage ist, dass wir Menschen mögen und dass wir frei sind, auf sie zuzugehen. Wir haben uns unheimlich schnell vernetzt. Und die Menschen hier haben begriffen, dass wir nicht hierher gekommen sind, um die Schotten dicht zu machen. Sondern, dass wir hier und mit ihnen sein wollen.

Ich war so überrascht von dem, wie ich auf dem Bild strahle.

Guido: Mental ist man hier ganz anders drauf. Ich habe neulich ein Foto gemacht, weil ich es unserem Sohn schicken wollte. Und ich  dachte, als ich es mir das Bild genauer anschaute: „Krass, wie ich lach‘.“ Ich war so überrascht von dem, wie ich auf dem Bild strahle. Und Freunde sagen das auch, dass wir uns verändert haben, dass ich mich verändert habe.

Silvia: Wir haben jetzt erst einmal angefangen, wieder unsere Sinne richtig zu benutzen: Hey, riechst du das? Hey, schmeckst du das?  Also dieses Miteinander mit der Natur, mit den Tieren, das Miteinander auskommen, Sachen zu entdecken, das haben wir in der Stadt alles nicht gehabt – und das ist eine extreme Bereicherung und auch eine extreme Veränderung in meinem Leben. Und es macht mich auch irgendwie ruhig. Ich hatte sonst mehr Umdrehungen. Ich fühle mich hier entspannter. Von Anfang an haben wir gesagt, die Dänen scheinen ja ein glückliches Volk zu sein, gucken wir mal, was wir uns bei ihnen abgucken können. Eine der ersten Erfahrungen im Sommer war, dass wir an einem Sonntagnachmittag in die Bierbrauerei wollten – also eigentlich sind wir nicht wirklich Biertrinker – , aber wir haben gedacht, das ist bestimmt toll, bei 30 Grad um 15 Uhr in einem Biergarten zu sitzen. Aber da war ein Schild mit der Aufschrift: „Wir haben zu, wir sind baden.“ Von den Dänen kann man eben nicht nur lernen, was hyggelig bedeutet, man kann auch lernen, was Gelassenheit bedeutet. Eine Gästin hat mal gesagt, dass man hier ein bisschen im besten Sinne des Wortes verwildert.

Wie geht es jetzt weiter?

Guido: Also ich habe noch keine Pläne für danach, die ergeben sich eher so. Ich bin ja froh, wenn ich jetzt die nächsten zehn Jahre körperlich gut durchhalte: Die Zeit, wo man sich unverwundbar fühlte und überall reinstürzt, so sind wir nicht mehr. Wir sind auch nicht zu naiv oder blauäugig. Einstein hat mal gesagt: „Verrückt ist der, der jeden Tag das Gleiche macht und hofft, dass sich etwas ändert.“ Wir versuchen eher, zu gestalten. Wir sind dabei durchaus demütig. Und wir gehen nicht davon aus, dass alles, was wir machen, immer klappt. Die Erfahrung sagt, du kannst alles richtig machen, alles, was in deinen Möglichkeiten steht – und trotzdem funktioniert es nicht. Dann  braucht es den Spirit zu sagen: Okay, dann machen wir eben etwas anderes. 

Buch-Tipp
Stadt Land Insel –
Wie wir in der dänischen Südsee unser Zuhause fanden
Silvia und Guido Weihermüller
Knesebeck-Verlag
Gebunden mit Schutzumschlag
241 Seiten
ISBN 978-3-95728-703-8

Mehr Infos hier:
https://www.oekogard-aeroe.de/

Für diese Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gibt es ja gar keinen richtigen Namen. Es gibt nur dieses Negative: Midlife-Crisis; aber diese neue Freiheit, die man hat, das ist ein ganz starkes Momentum. Ich glaube, viele Menschen in unserem Alter haben noch etwas zu geben und sie wollen es auch.

Anna von Boetticher, 53

Anna von Boetticher, 53

Apnoetaucherin

Anna von Boetticher, 53

 

Foto: Alois Maurizi

„Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken“

Als Anna von Boetticher im Frühjahr 2007 einen Apnoe-Workshop belegte, ahnte sie nicht, dass sie wenige Monate später deutsche Tiefenrekorde brechen wird. Inzwischen zählt die gebürtige Münchnerin zu den  besten Apnoetaucherinnen weltweit. Ohne technische Hilfsmittel ist sie mit nur einem Atemzug  81 Meter tief getaucht, sie schwimmt mit Haien, Orcas und Mantarochen. Und sie ist das perfekte Beispiel dafür, dass jeder seinen Traum verwirklichen kann, wenn er es will.  

Luftaufnahme am Lake Eyre

Foto: Privat

Foto: Alois Maurizi

Sie tauchen seit Ihrem 17. Lebensjahr; wie ist es dazu gekommen?

Ich hatte schon als Kind den Drang, andere Welten zu sehen. Mit 17 hatte ich dann die Gelegenheit, meinen ersten Tauchschein zu machen, im Bodensee, es war Oktober. Bei Nieselregen gingen wir ins wirklich kalte Wasser, ab circa drei Meter Tiefe war es sehr dunkel, man sah kaum etwas. Ich aber war begeistert. Für mich war es eine faszinierende Entdeckungsreise.

Die meisten hätten wohl eher Angst bekommen.

Das ist ja der Witz daran. Ich dagegen fand es damals toll, das waren neue Welten. Da war Schlamm auf dem Boden, da waren alte Coladosen und Autoreifen, ein Aal kam aus dem Loch, ich fands interessant.

Kennen Sie keine Angst?

Ich habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. Ich habe aber halt unter Wasser nie Angst, überlege dann eher, was ich als Nächstes machen muss. Aber Sie haben recht, vielen ist es ungemütlich zumute, wenn sie irgendwo an der Oberfläche schwimmen, unter ihnen das tiefe Unbekannte, sie haben dieses Gefühl von Ausgeliefertsein. Ich dagegen fand das immer faszinierend, und wollte und will auch heute noch immer gucken, was da unten so los ist. Ich möchte eintauchen, ich möchte ein Teil davon sein. Das heißt jetzt aber nicht, dass ich vor nichts Angst hätte.

Sondern? 

Spinnen, Kakerlaken, Krabbeltiere, das ist nicht so mein Ding. Ich springe auch von nichts herunter. Ich mag dieses Gefühl nicht, ich mag auch Achterbahn fahren nicht. Da hab ich zwar keine Angst, dass mir etwas zustößt, aber ich kann dieses Gefühl nicht leiden.

Wie bereiten Sie sich auf einen Tauchgang vor? Gibt es so etwas wie einen Routineablauf? 

Wie ich mich vorbereite, hängt sehr von den äußeren Umständen des Tauchgangs ab. Einen Wettkampftauchgang, in dem es um eine maximale Leistung geht, ist ja etwas anderes als ein Tauchgang für Entdeckungen an einem Ort mit schwierigen Bedingungen, wie zum Beispiel etwa im Eis. Auf jeden Fall gibt es immer einen Moment der Konzentration, bevor es losgeht.

Was müssen Sie auf dem Weg nach unten und nach oben beachten; was ist der schwierigste Teil? 

Bei Tauchgängen, in denen es um das Erreichen einer maximalen Tiefe geht, ist auf dem Weg nach unten das größte Problem der Druckausgleich in Ohren, Stirn und Nebenhöhlen. Ab einer bestimmten Tiefe wird der kompliziert – dann brauche ich meine ganze Aufmerksamkeit, um keinen Fehler zu machen und habe deshalb die Augen geschlossen. Gleichzeitig versuche ich, möglichst entspannt zu bleiben, um wenig Sauerstoff zu verbrauchen. Ab etwa 30 Metern höre ich auf zu schwimmen und lasse mich nur noch sinken. Unten angekommen, drehe ich mich und mache mich zügig auf den Weg nach oben – da heißt es, einen guten Rhythmus zu halten und sich nicht von brennenden Muskeln irritieren zu lassen. Ein Erkundungstauchgang dagegen ist eine ganz andere Geschichte – der ist vielleicht nicht sehr tief, hat aber unter Umständen ungewöhnliche Herausforderungen, wie etwa eine geschlossene Eisdecke über dem Kopf. Dann geht es zum Beispiel darum, die Orientierung zu behalten und sich in der Tauchzeit stark einzuschränken, um eine hohe Sicherheitsmarge zu haben.

Wie reagiert Ihr Körper auf die Gesamtsituation? 

Wir alle haben den so genannten Tauchreflex, der uns schützt, wenn wir mit dem Gesicht im Wasser sind und nicht atmen können. Es ist eine Art Sauerstoffsparmodus, eine Überlebensfunktion des Körpers, der bei Babys und Kindern besonders stark ausgeprägt ist. Diesen Mechanismus teilen wir übrigens mit Meeressäugern wie Delfinen, Walen oder Robben. Wenn wir mit dem Gesicht im Wasser eintauchen und dabei den Atem anhalten, registriert dieser Körper schnell, dass wir nicht atmen können. Er fängt an, Sauerstoff zu sparen. Dazu wird erst einmal die Herzfrequenz gesenkt – der Puls fällt in meinem Fall bis auf 30 Schläge die Minute, unter Umständen auch noch darunter. Nach einer Weile kommt dann noch eine Verengung der Gefäße hinzu, Blut wird aus Armen und Beinen abgezogen und umverteilt, um die lebenswichtigen Organe wie Herz, Lunge und Gehirn zu versorgen, die jetzt Priorität haben. Dabei erweitern sich die Gefäße zum Gehirn, damit es nach unten gut durchblutet wird. Dieser Vorgang ist sehr effektiv – im Erwachsenenalter wird er bei uns allen schwächer, aber durch Training kann man ihn wieder verstärken und sich so ein Stück weit an die Unterwasserwelt anpassen. Der Mensch ist ein Anpassungswunder. Das zu erleben, ist sehr faszinierend.

Ach habe ganz normal Angst wie alle anderen Menschen auch. Mich haben sogar mal Psychologen getestet, meine Werte sind völlig normal. 

Foto: NDR/Henning Rütten

Was ist das für eine Welt dort unten? 

Darauf gibt es zahllose Antworten. 80 Meter in einem deutschen See etwa sind anders als 80 Meter in der Karibik, offenes Meer anders als eine Steilwand in Ufernähe. Taucht man in die Tiefe des Mittelmeers weit vom Ufer entfernt, der Grund ist irgendwo, noch weitere hundert Meter entfernt, dann ist es in 80 Metern dämmrig, aber nicht komplett schwarz, wie man meinen könnte. Um einen herum ist glasklares Wasser, in alle Richtungen ist es blau. Schaut man nach unten, dorthin, wo sich das Meer bodenlos anfühlt, ist es schwarzblau, ein wenig wie in einer Wolkennacht, weit draußen irgendwo. Blickt man in die Ferne, in die man gefühlt endlos sehen kann, ist es das intensive Dunkelblau, das das Meer selbst oft hat, wenn man über die Wellen segelt. Nach oben hin wird es heller, durchscheinend, es ist klar, hier geht es zurück. Man sieht das Licht der Tiefe, das jedes mal anders ist – und immer faszinierend und schön. Mit diesem Licht bin ich ein Teil des Ozeans, es ist eine wunderschöne Welt.

Wie fühlt es sich an mit all dem Wasser um und über sich; kann man das mit irgendetwas vergleichen? 

Ich denke nicht, dass man diese Erfahrung mit etwas vergleichen kann. Ich denke auch, dass sie jeder anders erlebt – manche Menschen, auch erfahrene, sehr gute Apnoetaucher kennen den Moment der Angst in der Tiefe, in denen ihnen plötzlich bewusst wird, wie weit weg sie sind, von der Oberfläche. Ich persönlich hatte ihn nie, für mich ist es faszinierend zu spüren, wie sehr ich ein kleiner Teil in einem sehr großen, weiten Raum bin und inwieweit ich mich dort auch aufhalten kann. 

Was denken Sie dort unten?

Je nachdem, was ich dort unten gerade mache, variiert das natürlich. In einem Wettkampftauchgang bin ich erstmal froh, meine Tiefe erreicht zu haben und konzentriere mich dann sofort auf den Rückweg. In anderen Fällen möchte ich mir dort unten vielleicht etwas ansehen, dann fasziniert mich ein besonderer Anblick. Aber immer, egal wie oder warum ich tauche, nehme ich die Tiefe in mich auf – und wenn es nur das Licht ist, dass mich dort umgibt. Es ist jedes mal etwas Besonderes. 

Welche Ausrüstung tragen Sie?

Wir Apnoetaucher brauchen erst mal nur einen Neoprenanzug, eine Maske und Flossen. Man kann aber auch ganz ohne Flossen tauchen oder aber mit einer Monoflosse – ein wenig wie ein Delfinschwanz. Für den Sport und im Wettkampf kommt noch ein Tauchcomputer dazu, von dem man später Tauchtiefe und Zeit ablesen kann, sowie ein Lanyard, mit dem man zur Sicherheit mit einem Seil verbunden ist, an dem entlang man in die Tiefe taucht.

Etwas, was Sie gar nicht mögen, also aufs Tauchen bezogen? 

Ich mag es gar nicht, wenn kaltes Wasser mich berührt – ich schwimme zum Beispiel nicht gerne als Sport, weil mir die meisten Schwimmbäder mit 25 Grad zu kalt sind. Trotzdem bin ich immer wieder im und unter Eis getaucht – bei extremer Kälte unter und über Wasser, weil mich die veränderten Welten interessieren. Dann halte ich die eisigen Temperaturen eben aus – und es ist jedes Mal so spannend, dass ich die Kälte vergesse. Abgesehen von der Planung der Ausrüstung und Ähnlichem bereite ich mich aber nicht besonders darauf vor, ich mache es einfach. Gegen die Kälte wieder schützt nur der Neoprenanzug, allerdings auch nur bedingt, denn mehr als sechs Millimeter sind es nicht, im Eis der Gletscher nur 2,5 Millimeter.

Wie tief wollen Sie noch gehen? Wie tief kann ein Mensch überhaupt tauchen?

Was das angeht, habe ich keine Pläne. Zurzeit hat sich mein Fokus vom Erreichen einer maximalen Tiefe auf das Entdecken ungewöhnlicher Orte und Facetten der Unterwasserwelt verschoben. Wie tief ein Mensch tauchen kann, weiß niemand genau – in jedem Fall tiefer, als man dachte. 

Wann wird Apnoetauchen gefährlich?

Apnoetauchen ist tatsächlich ein sehr sicherer Sport, bei dem es kaum einen Grund gibt, schwere Verletzungen mit bleibenden Schäden davon zu tragen oder gar zu sterben. Das setzt allerdings voraus, dass man die Sicherheitsregeln beachtet, die in diesem Sport üblich sind, etwa: Tauche niemals alleine. Unsere größte Gefahr ist es, im Wasser ohnmächtig zu werden. Diese Ohnmacht kann immer vorkommen – meistens dauert sie nur Sekunden und ist an sich gar nicht schlimm, vorausgesetzt, es ist jemand da, der den Taucher sofort aus dem Wasser holt. Daher bitte niemals alleine, ohne Partner im Wasser den Atem anhalten. Auch nicht in öffentlichen Schwimmbädern – man braucht immer jemanden, der gezielt auf einen achtet. 

Was waren Ihre denkwürdigsten Begegnungen?

Ach, es gibt so viele davon! Eine, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist die Begegnung mit einem Orca. In Norwegen kommen im Winter große Heringsschwärme vorbei, die wiederum Buckelwale und Orcas anziehen, die die Heringe fressen. Wir trieben damals Mitte November im Dämmerlicht der Polarnacht in einem Fjord, es schneite. Wir hatten vom Boot aus Orcas gesehen und waren ins Wasser gegangen, doch im Moment war alles ruhig. Ich tauchte also ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächsten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club. Es näherte sich bis auf etwa 2 Meter, umkreiste mich und kehrte dann zu seiner Gruppe zurück, die inzwischen im Hintergrund vorbei zog, inklusive Mütter mit Kälbern. Ein unvergleichliches Erlebnis.

Was hat das Leben Sie gelehrt – was hat das Tauchen Sie gelehrt?

Über die Arbeit als Tauchlehrer habe ich früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, auch für andere. Das Tauchen an sich hat mir erlaubt, Schritt für Schritt die Grenzen meines eigenen Könnens zu verschieben und über die vielen Erfahrungen mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen zu lernen, in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Das ist etwas, was sich auf das ganze Leben überträgt. Das Leben wieder hat mich, wie uns alle, gelehrt, das weder Erfolge noch Rückschläge ewig dauern und mit den Höhen und Tiefen umzugehen, ohne mich darin zu verlieren. 

Was unterscheidet die junge Anna von der Anna von heute?

Wie jeder Mensch, der erwachsen wird, bin ich sehr viel selbstsicherer in meinen Entscheidungen geworden. Ich weiß, was ich wie machen möchte und was nicht – und warum. Das macht vieles einfacher. 

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Keine Ahnung! Ich bin gespannt, was sich bis dahin alles ergibt. Regisseur James Cameron ist mal in einem U-Boot 10 000 Meter zur tiefsten Stelle des legendären Marianengrabens abgetaucht. Später wurde er gefragt, warum er dieses Risiko eingegangen ist. Seine Antwort: „Weil es mein Herz mit Staunen erfüllt.“ Für mich kann ich sagen: „Mein Herz staunt jeden Tag.“

Tipp

Der Film
Der Filmemacher Henning Rütten hat Anna von Boetticher auf ihren aufregenden Abenteuern auf den Azoren, in Mexiko, auf Island und in Budapest begleitet. Entstanden ist daraus die vierteilige Dokumentation „Waterwoman“. Zu finden in der NDR-Mediathek

Das Buch
„In die Tiefe – Wie ich meine Grenzen suchte und Chancen fand“
Anna von Boetticher
Ullstein Verlag
208 Seiten
ISBN 978-3864930706

Mehr Informationen:
https://annavonboetticher.com

Ich tauchte ab ins dunkle Wasser und verharrte in circa 10 Metern Tiefe, als ich mit einem Mal schemenhaft etwas aus der Dunkelheit auftauchen sah – die schwarz-weiße Zeichnung eines großen Orcamännchens, das direkt auf mich zuschwamm. Im nächten Moment spürte ich ein Vibrieren in der Brust – es war das Echolot, mit dem es mich abtastete, ich konnte es fühlen wie Bässe im Club.

Bettina Putzig, 59

Bettina Putzig, 59

Triathletin

Bettina Putzig, 59

Fotos: Privat

„Ich weiß jetzt, ich kann alles erreichen, wenn ich es will.“

Bettina Putzig ist eine erstaunliche Frau. Die 59-Jährige aus Baden-Württemberg war zwar schon immer eher der sportliche Typ. Dann aber erkrankte sie zunächst an Hüftarthrose, kurze Zeit später erlitt sie einen Bandscheibenvorfall. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken oder etwas kürzer zu treten, tat sie das, was sie immer tat:  Vollgas geben – und mit dem Sport ging es für sie dann erst richtig los. Schwimmen, Radfahren, Joggen – Langdistanz. Bettina Putzig ist überzeugt: „Triathlon ist das Beste, was mir passieren konnte.“

Du hast schon immer Sport gemacht, zuletzt aber schien deine Karriere beendet.

Genau. Ich bekam die Diagnose Hüftarthrose und hatte einen Bandscheibenvorfall, das Bein war gelähmt. Zuerst dachte ich, okay, jetzt schlägt das Alter langsam zu, jetzt musst du mal schauen, was es für Alternativen gibt. Dann aber fiel mir Kraulen ein, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keine wirklich gute Schwimmerin war. Mein Bruder besuchte damals ein Triathlon-Camp auf Lanzarote – und er riet mir: „Die nehmen auch Anfänger, probier es aus.“

Was passierte dann?

Dann telefonierte ich mit den Organisatoren und schilderte mein Problem. Die versprachen: „Kriegen wir hin.“ Und ich meinte: „Ihr wisst noch nicht, was auf Euch zukommt.“ Im Flugzeug auf dem Weg zum Camp fragte mich:  „Bist du eigentlich bescheuert? Was machst du überhaupt hier?“

Wie alt warst du zu dem Zeitpunkt? 

51 Jahre alt. Aber: Nach einer Woche konnte ich 25 Meter am Stück freihändig kraulen.

Trotzdem wollte man dich bei deinem ersten Triathlon aus dem Wasser ziehen.

Ja, weil ich so schlecht geschwommen bin. Aber denen von der DLRG hab‘ ich gesagt: „Lasst mal, ich schaff das.“ Ich war zwar die Letzte, die aus dem Wasser kam, aber ich sah aus wie die Siegerin. Seither ist Triathlon mein Ding.

Wie sieht dein Trainingsplan aus?

Bisher habe ich Freestyle gemacht. Aber jetzt fange ich an, nach Plan zu trainieren, auch wenn ich ihn hin- und wieder modifiziere. Ansonsten trainiere ich acht bis zehn Stunden. Dienstags ist Schwimmen, Mittwoch ist Intervalltraining, Donnerstag ist Schwimmen und Radfahren, Freitag ist manchmal frei, Samstag ist langes Radfahrern, Sonntag ist langes Laufen. Und montags geh‘ ich mit den Mädchen vom Betrieb walken.

Wie bekommst du das alles organisiert: Job, Sport, die Vorbereitung auf einen Wettkampf? Ist das alles nicht sehr zeitintensiv?

Das kriegt man schon alles hin, wenn man das will, die Freizeit wird einfach um den Sport herum geplant. Auch, als ich mich für die Langdistanz vorbereitet hatte, bin ich sozial nicht vereinsamt und habe mit meinen Mädels mal einen Sekt getrunken. Und wenn ich von der Arbeit die 14 Kilometer nach Hause jogge, ist der ganze Stress schnell wieder vergessen. Das fühlt sich dann an, als wäre ich drei Tage nicht mehr auf der Arbeit gewesen.

Wie geht es dir heute körperlich? Hast du Schmerzen?

Ja, vor allem nachts, wenn ich zur Ruhe komme. Ich habe noch immer Hüftarthrose beidseitig, habe inzwischen gerade auch eine neue Hüfte bekommen. Aber mit dem Triathlon habe ich deutlich weniger Schmerzen als ohne. Durch den Sport konnte ich die  Operation sogar sieben Jahre hinauszögern. Bei Arthrose muss man sich bewegen, das ist das A und O, weil dadurch die Durchblutung in den Gelenken verbessert wird. Natürlich kann ich die Arthrose nicht rückgängig machen, aber ich konnte sie verzögern, und das war mein Ziel. 

Auch mit künstlicher Hüfte machst du weiter?

Ich habe mich schon belesen, moderates Laufen wird sogar empfohlen. Man muss nur schauen, dass die Schuhe gedämpft sind. Aber dadurch, dass ich kein Anfängerin bin, weiß ich ja damit umzugehen. Ich habe auch keine Knieprobleme wie viele andere. Und um ehrlich zu sein, hatte ich auch nur zwei Optionen: Mir entweder mit Schmerzmitteln die Nieren oder die Leber zu zerstören oder mich operieren zu lassen. Ich habe dem Arzt gesagt: Im August ist die Saison zu Ende, danach machen wir den Eingriff. Und im Januar aber will ich dann mit Ski-Langlauf anfangen. Und ich bin auch schon für den Allgäu Triathlon angemeldet.

Wie motivierst du dich?

Ich weiß einfach, dass es mir nach dem Sport immer besser geht. Und oft es ist ja so, dass es sich umso besser läuft, je weniger Lust man zunächst hatte. Es ist aber auch nicht mehr so wie früher, dass ich mich bis zum Elend durchzwinge. Das ist mein Luxus, den ich mir gönne im Alter. 

Was können ältere Athleten besser als jüngere?  

Ich würde sagen: Mit Niederlagen umgehen, denn wir wissen, das es nicht das Ende der Welt ist. Am Ende interessiert der Wettkampf auch nur einen selbst. Der Rest sind Zahlen – und die sind schnell vergessen.

Was kannst du heute besser als früher?

Zulassen und gönnen können. Früher war ich wesentlich verbissener. Aber der Iron Man hat tatsächlich etwas in mir verändert. Ich muss heute niemandem mehr etwas beweisen, ich hab‘ das Ding gerockt, und das ist schon cool, das gibt mir eine gewisse Gelassenheit. Ich weiß jetzt, ich kann alles erreichen, wenn ich es will.

Das heißt, du fühlst dich wohl in deiner Haut?

Klar, wer will nicht gerne jung sein. Aber man muss das Beste aus jeder Situation machen. Ich jedenfalls will mir nichts von meinem Alter diktieren lassen. So lange das alles geht, so lange mache ich das. Ich sage immer: Der Sport ist meine Religion, und der Wald ist meine Kirche. 

Natürlich, wer will nicht gerne jung sein, aber man muss das Beste daraus machen. Ich jedenfalls will mir nichts von meinem Alter diktieren lassen.

Michael Martin, 60

Michael Martin, 60

Fotograf

Michael Martin, 60

 

„Mein Werkzeug ist die Kamera, ich brauche Bilder und Geschichten“

Man muss Michael Martin nicht fragen, was ihn antreibt. Ein Blick auf seine Fotos genügt. Zumeist sind es Naturaufnahmen, Bilder aus den abgelegensten Orten dieser Welt, Porträts einer einzigartigen Welt; einer Welt, die – zum Teil – im Sterben liegt. Michael Martin gehört zu den bekanntesten Reisefotografen Deutschlands. Seit über 40 Jahren ist er mit seiner Kamera in der Welt unterwegs. Er durchquerte die Wüsten, zog durch die Arktis und Antarktis, erreichte den Nord- und Südpol. Er hat über 30 Bücher veröffentlicht, zuletzt ist sein opulenter Bildband „Terra“ erschienen, ein Buch, in dem er die Reisen von fünf Jahren zusammenfasst, zugleich ist es ein Kniefall vor der Schönheit dieser Welt. In diesem Jahr wurde Martin 60 Jahre alt, kein Grund, etwas das Tempo rauszunehmen. Er sagt: „Das, was ich mit 20 gemacht habe, kann ich auch mit 70 noch tun.“

 

Luftaufnahme am Lake Eyre

Fotos: Michael Martin

Woher diese Neugierde?

Die Neugierde war immer da. Als ich mit 14 Jahren durch das Okular meines Fernrohrs schaute, habe ich den Jupiter und den Saturn gesehen und fand das super spannend. Später habe ich dann Geografie studiert, weil mich die Geschichte der Erde interessierte. Und auch jetzt, beim Projekt Terra, fand ich es super interessant, unsere Erde neu kennenzulernen und zu erfahren, aus was für einem Chaos die Erde kommt – und wie sie zu dem blauen Planeten wurde, den wir Menschen vor 180 000 Jahren vorgefunden haben. Man kann auch sagen: Meine Arbeit entspringt einem ganz tiefen Interesse. Dem Interesse an der Geografie und der Fotografie.

Wie hat sich das Reisen im Laufe der Zeit verändert?

Als ich mit 17 mit dem Mofa nach Marokko gefahren bin, habe ich zur Vorbereitung die deutsche Botschaft in Rabat angeschrieben mit der Bitte um Kartenmaterial und Informationen. Es gab keine detaillierten Straßenkarten damals, es gab kein Internet, es gab auch noch nicht diese alternativen Reiseführer. Und heute, da ist es beinahe egal, wo ich hinfahre, innerhalb von Sekunden habe ich detaillierte Informationen auf meinem Handy. Ich kann Unterkünfte buchen, Kontakt zu Guides aufnehmen, kann mir ein Auto mieten. Das macht es einfacher. Zugleich aber sind meine Reisen auch immer komplexer geworden, weil ich einerseits die immer höheren Erwartungen meines Publikums spüre und sie andererseits aber auch selbst an mich habe; so reise ich etwa in immer entlegene Gebiete.

Gab es schwierige Situationen?

Für das, was ich gereist bin, gab es wenige brenzlige Situationen, in der Regel aber habe ich eigentlich nur positive Erfahrungen gemacht. Denn als Weltreisender wird man tatsächlich oft mit offenen Armen empfangen. Reisen ist nicht gefährlicher als das Leben zu Hause. Und wenn man dazu die Regeln kennt, etwa weiß, dass man in einem Dorf erst mit dem Dorfältesten spricht, bevor man anfängt zu fotografieren, hilft das außerordentlich. Und: Ich lese die Seiten des Auswärtigen Amtes immer sehr genau. Und frage zusätzlich immer noch bei den Einheimischen nach.

Was unterscheidet den jungen Michael Martin von Michael Martin von heute?

Nicht so viel. Ich war schon immer ein Getriebener – und ich war schon immer perfektionistisch. Ich wollte schon immer die größte Leinwand, das beste Plakat, die besten Projektoren. Ich habe den Strom aus der Steckdose schon vor 30 Jahren von 220 auf 240 Volt hochgespannt, um noch mehr Licht aus dem Diaprojektor zu bekommen. Oder nehmen Sie die Bücher. Da wollte ich schon immer die beste Druckqualität. Im Privaten allerdings bin ich bei Weitem nicht so anspruchsvoll; ich brauche kein Büro mit irgendwelchen teuren Möbeln. Aber meine Ausstellungen oder Bücher und die Vorträge, das muss perfekt sein.

Ich war schon immer ein Getriebener – und ich war schon immer perfektionistisch.

Fotos: Michael Martin

Mit den Jahren haben Sie sicher Ihre Erfahrungen gemacht?

Absolut. Es hat auch Vorteile, ein alter Hase zu sein. Man greift auf einen Fundus aus Erfahrungen zurück: wie man etwa mit einem aggressiven Polizisten oder betrunkenen Militärs umgeht, wo man Benzin auftreibt, nach dem Weg fragt, auf Leute zugeht, um ein Bild zu bekommen. Und man bildet mit der Zeit Rücklagen. Corona etwa, das war für unsere Branche eine Katastrophe. Keine Reisen, keine Veranstaltungen. Mich aber hat es gar nicht gestört, weil ich das eher positiv gesehen habe, mich zwei Jahre mal mit anderen Dingen beschäftigen zu können und meine Bücher gut zu schreiben.

Die Zeiten sind nicht eben einfach für Fotografen. Wie kann man dennoch in der Branche bestehen?

Das Live-Erzählen von einer Reise, das ist meine Nische, da habe ich mir einen Namen gemacht. Insgesamt habe ich mehr als 2000 Diavorträge gehalten und stehe auch jetzt wieder mit „Terra“ auf der Bühne. Meinen ersten öffentlichen Vortrag hatte ich 1978, da war ich 15. Der hieß „Frei zu sein bedarf es wenig“. Es ging um meine erste Fahrradreise durch die bayerischen Alpen. Es kamen acht Zuschauer, jeder hat 3 Mark Eintritt bezahlt. Mit 17 habe ich dann meine erste Reise mit dem Mofa nach Afrika gemacht – und auch darüber habe ich einen Vortrag gehalten. Und so ging es immer weiter. Ich habe über 40 Jahre Steinchen für Steinchen aufgebaut und das daraus entstandene Gebäude ist stabil.

Reisen, fotografieren, präsentieren; nutzt sich auf Dauer nicht aber doch das Konzept etwas ab, also für einen selbst? 

Ich habe meine Themen ja immer wieder erweitert. Erst war ich nur in der Sahara unterwegs, dann in den Wüsten Afrikas, dann in allen Wüsten der Erde, dann habe ich das Eis bereist,  und jetzt schaue ich auf die ganze Erde. Ich habe mir quasi immer wieder selbst neue Projekte gestellt – und mir so meine Begeisterung über Jahrzehnte erhalten. Und das Gute ist: das, was ich mit 20 gemacht habe, kann ich auch mit 70 noch machen.

Was hat das Leben, was hat das Reisen Sie gelehrt?

Demut vor der Leistung von Milliarden von Menschen, ein erfülltes Leben unter viel schwierigeren Bedingungen als in Mitteleuropa zu führen.

Welche Rolle spielt das Alter?

Natürlich bin ich älter, bin nicht mehr so fit wie mit 30 und 25 Jahren, ich bin aber auch nie ein super sportlicher Mensch gewesen, insofern ist da nicht so ein Leistungsabfall zu befürchten. Ich bin dieses Jahr 60 geworden, aber ich spüre das Alter nicht, also im negativen Sinn. Das, was ich machen will, kann ich machen – und das hat weniger mit sportlicher Höchstleistung zu tun, sondern vielmehr mit dem Willen und der Mission. Mein Werkzeug ist die Kamera, ich brauche Bilder und Geschichten. Das treibt mich auf Berge oder in Gebiete, wo es anstrengend ist. Wenn ich diese Mission nicht hätte, würde ich schön die Finger davon lassen und dann ganz normal durchs Allgäu wandern.

Mit welchem Blick schauen Sie heute auf die Welt? Als Sie die ersten Reisen gemacht haben, war ja zumindest gefühlt alles noch intakt.

Ach, da war auch nicht alles intakt. Denken Sie an den sauren Regen, denken Sie an Tschernobyl, denken Sie an den Kalten Krieg. Denken Sie an die großen Hungerkatastrophen in Afrika, Biafra, Äthiopien. Das war auch keine heile Welt. Wenn ich zwei Entwicklungen sehe in den vergangenen 40 Jahren, ist es einerseits der Klimawandel, der massive Veränderungen gebracht hat – und zum anderen der Kulturwandel, das ist eigentlich das Auffälligste. Früher habe ich viel mehr traditionelles Leben weltweit erlebt. Und während wir in Mitteleuropa zumindest eine freie Gesellschaft, einen Rechtsstaat, ein Gesundheitssystem bekommen haben, haben viele Menschen in den ärmeren Regionen ihren Kontext verloren. Mit dem Fortschritt kam oft auch die kulturelle Entwurzelung.

Was ist besser geworden?

Viele Dinge sind besser geworden, die Bevölkerungsentwicklung ist abgebremst, die Bevölkerungsexplosion ist vorbei. Wir haben keine 2,2 Prozent Wachstum mehr, sondern nur noch gut 1 Prozent. Es gibt viel mehr Krankenhäuser auf der Welt, viel weniger Mütter sterben im Kindbett. Die Kinder sind geimpft, es gibt eine bessere Wasserversorgung, die Armut ist reduziert. Und es hat sich in vielen Ländern eine Mittelschicht gebildet.

Wie behält man den positiven Blick?

Man muss immer beide Seiten sehen. Wir haben Corona besiegt, Aids im Griff, im Rhein schwimmen keine toten Fische mehr; das sind ja auch alles Meilensteine. Sicher, es gibt viele negative Entwicklungen auf der Welt, zum Beispiel diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd, die Schere geht immer weiter auf. Aber es gibt auch viele gute Entwicklungen. Man muss es differenziert sehen.

Sind Sie Optimist?

Ich bin weder Optimist noch Pessimist. Ich glaube an die Klugheit der Menschheit, ich bin kein Typ, der den Kopf in den Sand steckt. Sicher, es ist vieles ganz furchtbar. Aber am Ende des Tages glaube ich, dass wir für viele Dinge, die uns jetzt noch als unlösbar erscheinen, dass wir da eine Lösung finden werden. Als ich studiert habe, prophezeite der Club of Rome das Versiegen der Erdölquellen. Aber es ist völlig anders gekommen. Und so werden wir irgendwann auch den Klimawandel in den Griff bekommen.

Was kommt als Nächstes, welche Pläne haben Sie? 

Ich habe so ein paar Ideen. Aber wie ein Schriftsteller, der gerade ein Buch abgegeben hat, habe ich nicht gleich das nächste Projekt in der Schublade; ich überlege noch hin und her. Aber das ist ja auch das Schöne am Älterwerden, dass man entspannt sein kann.

Buch-Tipp
TERRA – Gesichter der Erde,                
Text- und Fotografie: Michael Martin
Knesebeck-Verlag
Gebunden mit Schutzumschlag
448 Seiten
ISBN 978-3-95728-337-5

Mehr Informationen:
https://www.michael-martin.de

Ich bin dieses Jahr 60 geworden, aber ich spüre das Alter nicht, also im negativen Sinn. Das, was ich machen will, kann ich machen – und das hat weniger mit sportlicher Höchstleistung zu tun, sondern vielmehr mit dem Willen und der Mission.